Die Ballonfahrerin des Königs
mit mir,
Marie! Erzähl mir von dir! Von deiner Kindheit, deinen Eltern!» Er hob die Hände. «Fang einfach mit irgendetwas an! Erzähl
mir zum Beispiel, wie dein Vater dazu kam, einer Ballonfahrt beizuwohnen, die in Versailles vor dem französischen und dem
schwedischen König stattfand!»
Sie drückte ihre Fingerspitzen gegen die Schläfen. «Hör auf damit! Du willst alles und zu schnell! Ich brauche Zeit! Du fragst
nach meiner Familie, aber ich habe mehr als das: Ich habe eine Geschichte, André! Ich kann nicht so tun, als würde es sie
nicht mehr geben, weil du dich plötzlich in mein Leben drängst!»
«Aber ich verlange doch nicht von dir, deine Vergangenheit aufzugeben!»
Sie schüttelte heftig den Kopf. «Du wirst mich und dich selbst ins Unglück stürzen, wenn du mich nicht gehen lässt!»
Er wandte sich von ihr ab und stützte sich auf den Korbrand. «Und du verlangst Unmögliches von mir.» Seine Augen suchten einen
Punkt am Horizont. «Du hast die Zeichnungen gesehen, Marie. Mehr brauche ich dazu nicht zu sagen.» Ein Muskel zuckte auf seiner
Wange.
Auf einmal wirkte er verschlossen, fast abweisend, und sie fröstelte. Er hatte recht. Sie zog die Decke enger um ihre Schultern.
Er war genauso machtlos gegen seine Gefühle wie sie gegen die Kraft, die sie aus seinen Armen riss, obwohl sie sich nach nichts
mehr sehnte, als von ihnen umschlungen zu werden. Warum war alles plötzlich so kompliziert? Noch vor |134| kurzem hatte sie genau gewusst, was sie wollte und wohin ihr Weg sie führte. Und jetzt …
Jetzt wusste sie nur noch eines: dass sie nicht länger den Anblick von Andrés abweisendem Rücken aushielt. Sie näherte sich
ihm und legte ihre Hand zwischen seine Schulterblätter.
Er richtete sich langsam auf, drehte sich ihr zu.
«Versprich es mir», flüsterte sie.
André sah sie fragend an.
Sie blinzelte heftig, brachte ein vorsichtiges Lächeln zustande. «Ich will versuchen, nicht mehr wegzulaufen. Aber dann darfst
du mir auch keine Fragen mehr stellen, mir nachforschen oder mich verfolgen.»
Seine Hand zeichnete die Konturen ihres Gesichtes nach. Noch nie hatte sie jemand so angesehen. Er nahm sie in die Arme, so
vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich.
«Ich verspreche es dir», sagte er mit rauer Stimme.
|135| 5. KAPITEL
Messidor, Jahr II
Juni 1794
«Lass mal sehen, was du hast!»
«Na, Schätzchen, Lust auf ein paar angenehme Stunden?»
Die Rufe und Schreie schwirrten um Marie-Provence, doch sie achtete genauso wenig auf sie wie auf die winzigen Blütenblätter,
die Regen und Wind unter die Arkaden trieben. Noch vor einem Jahr hätte sie es abscheulich gefunden, sich durch die überdachten
Gänge des Palais Royal, das jetzt Palais-Egalité hieß, einen Weg bahnen zu müssen, vorbei an den leichten Mädchen, die es
bevölkerten. Doch seit sie täglich die Gassen der Stadt durchpflügte, hatte sie viel gesehen – etliche der kleinen Bewohner
der maison de la couche waren an diesem Ort gezeugt worden, und einige der Schicksale dieser Frauen waren ihr persönlich bekannt.
Abstoßender fand sie das Treiben der Spekulanten, die trotz des schlechten Wetters auf der nördlichen Seite der Gärten herumlungerten.
Obwohl das Gesetz ihre Machenschaften bekämpfte, trafen sie sich hier, um assignats gegen Münzen zu verkaufen und zwielichtige
Aktien anzupreisen, verhandelten, trumpften auf und betrogen, die Gier im Blick und die Hände tief in den Taschen. Etliche
von ihnen belagerten auf der Flucht vor dem Regen die Cafés und Restaurants, die sich unter den Arkaden eingemietet hatten.
Sie konnten sich die horrenden Preise noch leisten, die für eine anständige Mahlzeit verlangt wurden. Draußen bettelten dagegen
die Mütter mit ihren Kindern, deren Männer an die Front geschickt worden waren und denen die Inflation nicht mehr genug zum
Leben ließ.
Marie-Provence warf im Vorübergehen einen Blick in die |136| Lokale, auf die blankgeputzten Spiegelwände, die Lüster und die komfortablen Stühle. Die Restaurants mit ihren Menükarten
waren eine Errungenschaft der Revolution und vielerorts bereits eine ernsthafte Konkurrenz für die alten Gasthöfe, die nur
Tagesgerichte anzubieten hatten. Viele Köche, deren adelige Herrschaften außer Landes geflüchtet waren, hatten wie Rosannes
Mann Georges die Gelegenheit ergriffen und boten nun dem Volk Genüsse an, die früher den höheren Schichten vorbehalten gewesen
waren.
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