Die Ballonfahrerin des Königs
Allerdings hatten auch sie unter dem Wertverlust der assignats zu leiden, und einige Lokale waren bereits wieder bankrottgegangen.
Beim Gedanken an Rosanne und Georges regte sich Marie-Provence’ schlechtes Gewissen. Eine Zeitlang hatte Georges seine Frau
hofiert, ihre Lieblingsspeisen gekocht und ihr Blumen geschenkt. Aber gestern hatte Rosanne schon wieder erfolglos versucht,
ein blaues Auge zu verbergen. Heute Abend würde sie sich für Rosanne Zeit nehmen und früher nach Hause zurückkehren.
André würde allerdings enttäuscht sein. Er umwarb sie seit ihrer Ballonfahrt auf stille, zurückhaltende Art und übte sich
in Geduld. Sie selbst hatte sich dabei ertappt, wie sie nach ihm Ausschau hielt, wenn er nicht da war. Marie-Provence beschleunigte
ihren Schritt. Allzu viele Gedanken drehten sich bereits um André. Sie durfte nicht zulassen, dass er noch mehr Raum in ihrem
Leben einnahm. Sie, die Soldatentochter, würde sich von ihrem Ziel nicht ablenken lassen und den kleinen Jungen vergessen,
dem ein Teil ihres Herzens gehörte und der sie bitter brauchte.
Auf dem Gehsteig vor ihr hatte sich eine Menschentraube gebildet, vorwiegend Kinder, die Freudenschreie ausstießen und klatschten.
Neugierig warf Marie-Provence einen Blick auf das, was sie so begeisterte, und entdeckte einen Mann, den seine bunte Kleidung
als Gaukler auswies. Auf einem kleinen hochbeinigen Tisch hatte er ein Gestell aufgebaut – ein naturgetreues Modell der Guillotine.
Er griff in einen bereitstehenden Käfig. Aufgeregtes Tschilpen ertönte, dann präsentierte der Mann grinsend einen Spatzen,
wie |137| sie zu Tausenden unter den Dächern der Stadt flatterten. Eine schnelle, geübte Bewegung, ein gleitendes Geräusch, ein Ruck.
Winzige Blutstropfen sprühten über den Tisch, als der Kopf des Vogels vom Fallbeil abgetrennt wurde und auf den Boden fiel.
Die junge Horde johlte und klatschte. Marie-Provence drehte sich der Magen um. Sie wechselte die Straßenseite.
Als sie das Palais-Egalité und seine quirlige Bevölkerung hinter sich ließ, spannte sie den Regenschirm auf und lief die rue
de la Loi hinunter. Auf der breiten Straße wechselten sich Geschäfte und mehrstöckige Wohnhäuser ab. Aufmerksam studierte
Marie-Provence die Auslagen und die Namen, die darüberhingen, und schon bald erspähte sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite
eine tiefblaue Ladenfront. Die Worte ‹Epicerie Cortey› prangten in Zinnoberrot über einer angelaufenen Scheibe. Marie-Provence
blieb kurz stehen und sah sich um. Als sie sicher war, dass sie weder verfolgt noch beobachtet wurde, steuerte sie entschlossen
ihr Ziel an.
Der Krämerladen war nicht besonders breit, doch so lang, dass sich der Raum hinter der querstehenden Theke im Dunkeln verlor.
Der dünne Klang des Glöckchens, das ihre Ankunft angekündigt hatte, ließ den Mann aufsehen, der an einem Pult stand und mit
Feder und Tinte an einer Liste schrieb.
«Bonjour!», sagte er, ohne die Feder abzulegen. Er spähte sie über den Rand seiner runden Brillengläser an. «Was kann ich
Gutes für dich tun, citoyenne?»
Marie-Provence stellte ihren tropfnassen Schirm an die Tür und sah sich um: eine kleine Kiste mit Kirschen, eine andere mit
Erdbeeren. Ein paar schrumpelige Äpfel vom letzten Winter bildeten den Bodensatz eines Sackes. Getrocknete Feigen waren zu
einer würzig duftenden Pyramide aufgebaut, grüne und schwarze Oliven lagerten in ölig riechenden Fässern. «Bist du der Eigentümer?»,
fragte sie schließlich.
«Raymond Cortey, pour te servir, citoyenne», sagte der |138| Mann. Er mochte vielleicht fünfzig Jahre alt sein und hatte ein faltiges Gesicht, das zugleich von Gutmütigkeit und Gewitztheit
geprägt war.
«Dein Laden scheint einer der am besten bevorrateten der ganzen Stadt zu sein.»
Der Mann hob die Schultern. «Es freut mich, wenn du Gefallen an ihm findest.» Er steckte seine Feder in die Halterung und
richtete sich auf.
Marie-Provence schlenderte an den Reihen entlang, beäugte die Gefäße. «Allerdings habe ich einen etwas ausgefallenen Wunsch.»
Cortey antwortete nicht.
«Ich suche Kartoffeln.»
«Kartoffeln?» Cortey nickte. Die Wurzeln wurden erst seit knapp zwanzig Jahren angebaut und waren in der Tat eine seltene
Kost. «Wie schade. Letzte Woche hatte ich noch welche aus dem Elsass, aber die sind bereits alle verkauft. Vielleicht kommst
du in ein paar Tagen nochmal wieder, dann könntest du mehr
Weitere Kostenlose Bücher