Die Ballonfahrerin des Königs
kaum fassen
können. Inzwischen aber |228| befürchtete er, dass er diese Einladung nicht alleine ihrer Sehnsucht nach ihm verdankte.
«So, hier sind wir.» Marie-Provence blieb stehen.
Zu Andrés Rechten spannte sich der Pont-Neuf über die Seine, ihm gegenüber lag die île de la Cité und links der pont au Change
mit seiner Häuserreihe. Um sie herum flanierte eine Handvoll Menschen träge über den heißen Kai. Sie warfen einen Blick auf
die mageren Auslagen unter den gestreiften Markisen oder beobachteten das Treiben am Strand, den der abschwellende Fluss langsam
wieder freilegte. Die Räder der vier Mühlenschiffe, die an einem Pfeiler der Brücke vertäut waren, rauschten rhythmisch, ein
paar Kinder balgten sich im Wasser und schlugen nach den Mücken.
Es war ein friedliches Schauspiel, doch Marie-Provence schien es nicht wahrzunehmen. Ihr Blick blieb auf die heruntergekommene
Gebäudefront des Justizpalastes gerichtet, die sich ihnen gegenüber auf der île de la Cité erstreckte.
«Siehst du den Balkon mit den drei Rundbogenfenstern, dort im ersten Stock des schmalen Gebäudes, das die tour d’argent und
die tour de César verbindet?», fragte sie. «Dahinter befindet sich das Schreibzimmer von Fouquier-Tinville.»
André sah auf Marie-Provence hinab, doch die achtete nicht auf ihn. Stattdessen fuhr sie fort: «Man sagt, er arbeite fünfzehn
Stunden am Tag. Ein fleißiger Mann, nicht wahr? Jeden Morgen liegt eine Liste mit Dutzenden von Namen auf seinem Schreibtisch.
Und jeden Abend hat er sie abgearbeitet.»
André beschlich eine dunkle Vorahnung. Jeder kannte den öffentlichen Ankläger, und jeder fürchtete ihn, denn keiner war vor
ihm sicher. Schon allzu oft hatten die Machthaber von heute bereits am nächsten Abend ihren Kopf unter die Guillotine halten
müssen. «Hast du schon einmal mit Fouquier-Tinville zu tun gehabt?», fragte er.
Sie nickte. «Vor neun Monaten stand der Name meiner Mutter auf seiner Liste.»
André sog scharf die Luft ein.
|229| Marie-Provence sagte leise: «In der Zeit, als ihr Schicksal dort drüben in der conciergerie entschieden wurde, habe ich jeden
Morgen hier gestanden.» Sie zuckte die Schultern. «Frag mich bitte nicht, warum. Die Marie-Provence, die ich damals war, ist
mir selbst fremd geworden. Ob ich mir tatsächlich eingebildet habe, so Einfluss auf die Ereignisse nehmen zu können?»
Er hätte sie berühren wollen, doch er wagte es nicht. «Was ist mit deiner Mutter geschehen?»
«Ich bin jeden Nachmittag in die cour du Mai gegangen, um der Abfahrt der Verurteilten beizuwohnen und zu versuchen, von ihren
Mitgefangenen etwas über sie zu erfahren. Und eines Tages war sie dabei.» Sie sah noch immer zum anderen Ufer hinüber. «Bevor
der Leiterwagen sie wegbrachte, hat sie mich gewarnt.»
«Wovor?»
«Sie wusste, dass sie ihre Verurteilung hauptsächlich einem Mann verdankte. Und sie war überzeugt, dass dieser Mann nicht
nur sie, sondern auch alle anderen Serdaines vernichten wollte.»
Sie sprach mit solcher Ruhe, dass er nicht eine Sekunde an der Wahrheit ihrer Worte zweifelte. André mochte überzeugt sein,
dass die bewegten Zeiten, die sie durchlebten, viel Gutes mit sich brachten − aber realitätsfremd war er nicht. Etliche Menschen,
egal, aus welchen sozialen Schichten sie stammten, nutzten die Umwälzungen, um persönliche Fehden zu begleichen. «Warum hasst
er euch so?», fragte er.
Zum ersten Mal sah sie ihn an. «Du glaubst also auch, dass es einen Grund geben muss für diese Verfolgung? Ich habe Mutter
und Vater dieselbe Frage gestellt, doch nie eine Antwort bekommen.» Sie verschränkte die Arme über der Brust.
Er sah auf sie hinab. Wie so oft gab sie sich äußerlich ruhig. Doch inzwischen gelang es ihm immer besser, durch die kleinen
Risse zu schauen, die ihr Panzer aufwies, und er ahnte ihre Nervosität. Eine Welle der Sorge und der Wut ergriff ihn. «Wer
ist dieser Mann?»
«Sein Name ist Cédric Croutignac.»
|230| «Croutignac?», rief er überrascht aus. «Ist das nicht der Mann, der dich und docteur Jomart in den Temple geholt hat? Der
Aufseher des kleinen Capet?»
«Genau.»
André wischte sich über das Gesicht. Er hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. «Warte!», sagte er. «Irgendwie muss ich
da etwas missverstanden haben. Du weißt also, dass es einen Mann gibt, der deinen Vater und dich lieber heute als morgen unter
der Guillotine sähe. Einen Mann mit Einfluss,
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