Die Bankerin
Tag zeigten Wirkung. Ihm war schwindlig, der Sessel drehte sich im Kreis. Er öffnete die Augen wieder und sah zur Uhr. Sechs Stunden Schlaf, danach ein Achtzehnstundentag.
Er wusch sich nur oberflächlich, er hatte ja gerade erst gebadet, putzte die Zähne und legte sich schlafen. Er wünschte sich einen tiefen, erholsamen Schlaf und am nächsten Morgen aufzuwachen und zu wissen, daß dieser Abend nichts als ein in höchstem Maße abstruser Traum gewesen war.
Die Nacht war grausam. Er wälzte sich im Schlaf, schweißüberströmt, obgleich kühle Luft durch das geöffnete Fenster wehte, und wenn er doch einschlief, dann nur oberflächlich und gepeinigt von furchtbaren, düsteren Alpträumen. Einmal spürte er Johannas beruhigende Hand auf seiner Schulter, er war zum Ende der Nacht hin schreiend aufgewacht (er litt in letzter Zeit oft unter diesen unerklärlichen Alpträumen), die ersten Streifen der Dämmerung tauchten das Zimmer in noch diffuses, silbrig-graues Licht. Einen Moment blieb er regungslos liegen, Stakkato in der Brust, Schwere in den Beinen, ein leichter Anflug von Übelkeit, Nadelstiche in der linken Schläfe. Bei einem Blick zur Uhr stellte er bestürzt fest, daß seit dem Einschlafen gerade vier Stunden vergangen waren. Auf einmal war der Alptraum wieder gegenwärtig, eine seltsame Collage vergangener Gesichter in einer düsteren Umgebung, die vertrauten Gesichter ausdruckslos und dabei so merkwürdig traurig. Vater, dessen Haut dunkelblau verfärbt war und sich allmählich vom Gesicht löste, bis nur noch die Haare und der blanke Schädel zu sehen waren; Tante Maria, die geliebte Tante seiner frühen Kindheit, die sich den Leib weggeschossen und womöglich ein schreckliches Geheimnis mit ins Grab genommen hatte; Onkel Gustav, den er nur von weitem sah und auch nur den Rücken, der an einer Hand seine kleine Tochter hielt und in der anderen einen schweren, dunklen Koffer, und auch die Kleine hielt etwas in der Hand, was, das konnte er im Traum nicht genau ausmachen, so sehr er sich auch anstrengte, er glaubte aber, einen länglichen Gegenstand gesehen zu haben,und beide entfernten sich langsam von ihm und tauchten in den Horizont ein. Der Traum war lebendig, selbst jetzt, nachdem er aufgewacht war und das aufgeregte Hämmern in seiner Brust nachließ.
Er dachte daran, an diesem Freitag einfach zu Hause zu bleiben, die Poststelle der P RO C OM würde auch einmal ohne ihn auskommen. Es war ohnehin eine lausige Arbeit. Wofür zum Teufel hatte er überhaupt studiert?! Warum hatte sein sogenannter Freund ihn nicht für die Entwicklung von Programmen eingesetzt?! Statt dessen Briefe eintüten, sortieren, frankieren, im Haus verteilen …
Johanna hatte ihre Hand wieder zu sich genommen und schlief leise schnarchend. Draußen donnerten die ersten Autos über die nahegelegene Brücke, aus der Wohnung über ihnen dröhnte der hämmernde, monotone Rhythmus nervtötender Technomusik mit den unglaublich schnellen, nervösen Beats. Lumpenpack, ihr verdammtes! dachte er zornig, ballte die Fäuste und verfluchte dieses armselige Gemäuer, in dem dahinzuvegetieren sie verdammt waren, und diesen asozialen Abschaum über ihnen, für den Rücksicht ein Wort mit unbekannter Bedeutung war. Kein Tag, an dem das Treppenhaus nicht erbärmlich stank, die Aufzüge nicht blokkiert waren, demoliert von Randalierern, die Knöpfe mit Feuerzeugen angesengt, die Türen und Wände mit Kot oder Blut oder in harmloseren Fällen mit Sprühdosen oder dicken Edding-Stiften beschmiert. Urinlachen und Kothaufen auf den Treppenstufen. Autos wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit aufgebrochen oder abgestellte Wagen einfach angezündet, die ausgebrannten Wracks verrotteten auf den Parkplätzen und an der Straße, und niemand kümmerte sich darum, denn Angst dominierte. Heroinsüchtige spritzten sich ihr Gift in aller Öffentlichkeit, erst vor ein paar Tagen war ein kleines Mädchen auf dem Spielplatz in eine Fixerspritze getreten, und jetzt fürchteten die Eltern, die Kleine könnte sich mit Aids infiziert haben. Jugendbanden terrorisiertendie Anwohner mit Lärm und Gewalt, rotteten sich zusammen und zogen aus zum Krieg gegen andere Banden. Schlägereien, Vergewaltigungen, Einbrüche gehörten hier zum Alltag, und die Polizei sah weg. Der Briefträger, ein freundlicher, junger Mann, war vor einer Woche brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. Im Nachbarhaus hatte ein Mann seine Frau so schwer mißhandelt, daß die Ärzte noch nach
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