Die Bankerin
Tagen nicht sagen konnten, ob sie überleben würde. David hatte die gellenden Schreie der Frau gehört, doch nicht er, jemand anders hatte die Polizei alarmiert. Er mußte sich eingestehen, Angst vor Rache zu haben, doch eigentlich fürchtete er weniger für sich als für Johanna und die Kinder. Und die Furcht war berechtigt, denn kaum hatte die Polizei ihn vernommen, war der Mann bereits wieder auf freiem Fuß, stand mit seinen Saufkumpanen an der Trinkhalle und ließ sich vollaufen.
Ein Dreivierteljahr war seit ihrem Einzug in dieses Haus vergangen, und jetzt hausten sie auf der untersten Stufe von Wohnqualität, auf die man in dieser Stadt rutschen konnte. Zwar hielt die Miete sich in erträglichen Grenzen, dafür mußte man Schmutz und Gestank, Geschrei und Obszönitäten und die ständige Angst vor Einbrüchen und Überfällen in Kauf nehmen. Kleine Kinder draußen spielen zu lassen hätte bedeutet, sie überall lauernden Gefahren auszusetzen, um ihr Leib und Leben fürchten zu müssen. Die Wasserhähne tropften, ein paar Scheiben waren so milchig, daß man kaum noch durchsehen konnte, ständig blubberte es aus dem Abfluß der Badewanne, und dann stank es erbärmlich nach Fäkalien, und keiner machte sich die Mühe, die Ursache für das Blubbern und den Gestank herauszufinden oder gar zu beseitigen. Es gab zwar einen Hausmeister, der aber mehr betrunken als nüchtern war und offensichtlich die Anweisungen der Wohnungsgesellschaft befolgte, Reparaturen nur in äußersten Notfällen durchführen zu lassen. Nein, keine Reparaturen, keine Renovierungen, nicht für dieseHäuser, diese Menschen, diesen Abschaum. Wer hier abgelegt wurde, krepierte allmählich, ein langsamer, schleichender Tod, ein Dahinvegetieren. Oft genügte schon die Nennung des Straßennamens, spätestens jedoch sobald eine der hohen Hausnummern genannt wurde, wollte kein
anständiger
Mensch mehr etwas mit einem zu tun haben. Jeder, der hier wohnte, war verdammt, als Asozialer und somit als wertlos, als lebender Müll abgestempelt zu werden.
Was sie alles gehabt hatten! Und was sie alles noch vorgehabt hatten! David wollte das Geschäft noch führen, bis er fünfzig war, dann mit Johanna den Rest des Lebens irgendwo im Süden verbringen. Alles war nach Plan verlaufen, bis zum 10. Mai des letzten Jahres.
Und nun war der Traum vom Süden begraben, sie lebten in einem heruntergekommenen Haus, ärgerten sich über degenerierte Nachbarn, führten ein schäbiges Leben, die Schulden wuchsen ihnen über den Kopf, und er erging sich ein ums andere Mal in bitterem Selbstmitleid, und manchmal wachte er nachts auf und weinte.
Und nur weil er keinen anderen Ausweg sah, hatte er sich gestern kaufen lassen.
Bis gestern hatte es für ihn keine Zukunft gegeben. Doch seit ein paar Stunden träumte er wieder. War ihm der Vorschlag von Dr. Vabochon anfangs dubios, ungesetzlich und unmoralisch vorgekommen, so erhielt er bei näherem Hinsehen und mit dem Abstand von ein paar Stunden Schlaf eine immer angenehmere und freundlichere Gestalt. Wenn sie die Schulden übernahm, wobei ihn der Gedanke im Augenblick wenig scherte, ob legal oder nicht, so bestand doch noch Hoffnung, daß er eines Tages wieder ein sorgenfreies Leben führen konnte.
Er war nicht mehr müde. Er würde zur Arbeit gehen und später am Abend zu Dr. Vabochon. Er würde mit ihr schlafen, und vielleicht machte es sogar Spaß, jetzt, nachdem er die Sache überdacht hatte und zu dem Schluß gekommenwar, daß er nichts eigentlich Unrechtes tat. Versuchte er denn nicht lediglich, sein und das Leben seiner Familie zu retten – was sollte daran verwerflich sein? Weder mordete er, noch stahl er, noch beschädigte er fremdes Eigentum, noch verletzte er Menschen. Und außerdem war nicht er auf diese zugegeben haarsträubende Idee gekommen, er hatte nur ja gesagt. Und vielleicht erlebte auch das Liebesleben zwischen Johanna und ihm eine Renaissance, denn bei genauer Betrachtung hatte sich der Geschlechtstrieb – und die Lust – bei ihm in den vergangenen Jahren auf ein Minimum zurückentwickelt. Ihr physisches Eheleben bestand aus routinemäßig durchgeführten Hin- und Herbewegungen, ein paar Küssen auf die Brüste, Küsse auf den Mund waren zu einer Rarität verkommen, er hatte zusehends mehr Mühe, erregt zu werden. Nein, Spaß bereitete der Sex nicht mehr, dieses immer gleiche Ritual, Licht aus, Bettdecke bis ans Kinn, rüberrutschen, lustloses Umarmen und genauso lustloses Streicheln und versuchen,
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