Die Bankerin
Scherz, sie liebte solche Scherze aber nicht, sie ängstigten sie nur. Sie holte sich eine Flasche Wasser aus der Küche und schenkte sich ein Glas voll. Sie trank in langsamen Schlucken, es war lauwarm. Nach etwas mehr als einer Viertelstunde schlug das Telefon wieder an. Wieder nur dieses Atmen. Gerade als Johanna den Hörer auf die Gabel knallen wollte, meldete sich eine fistelnde, männliche Stimme: »Richte ihm aus, daß es hart für ihn werden wird. Sehr, sehr hart. Wir kriegen die Drecksau!«
»Wer sind Sie? Und von wem sprechen Sie?« flüsterte Johanna angstvoll.
»Sag’s ihm einfach nur, er wird’s schon wissen, Frau von Marquardt!«
»Ist es wegen Thomas? Sprechen Sie von ihm?«
»Schlaf gut und träum süß!« Der unheimliche Anrufer mit der Fistelstimme lachte wirr und legte auf, ohne Johannas Frage zu beantworten. Johanna spürte ihr Herz bis in die Schläfen pochen, etwas Spitzes rührte in ihren Eingeweiden,Angstschweiß lief in breiten Bächen über ihren Körper. Sie spürte die Schmerzen in ihren Beinen nicht mehr, das Reißen im Rücken war verschwunden, ihre Finger taten nicht mehr weh. Was sollte dieser seltsame Anruf? Also war Thomas doch in krumme Sachen verwickelt!
Mein Gott,
schrie sie in Gedanken und hob den Kopf und krallte die Hände ineinander,
mein Gott, warum das alles? Was haben wir getan? Bitte, bitte, bitte, hilf uns doch!
Sie weinte, die Anspannung der letzten Tage, der Tod ihres Vaters, die Aufregung um die Beerdigung, die viele Arbeit, und David war auch nicht zu Hause. Sie hatte Angst. Angst, daß das Telefon erneut klingeln könnte. Angst vor weiteren Drohungen. Angst, daß irgendwann nachts jemand vor der Tür stehen und … wenn sie ganz allein mit den Kleinen zu Hause war. Wie gut, daß morgen der letzte Schultag war! Noch eine gute Stunde, bis David heimkam.
Bitte, bitte, beeil dich! Und lieber Gott, vergib uns unsere Sünden, bitte, ich flehe dich an! Laß uns jetzt nicht im Stich!
Das Telefon! Sie ließ es fünfmal läuten, bevor sie mit zittrigen Fingern abhob. »Hallo, ich bin’s, Helga! Tut mir leid, wenn ich so spät noch anrufe, aber ich dachte mir, daß du noch auf bist, du kannst doch bei dieser Hitze bestimmt auch nicht schlafen.«
»Helga!« sagte Johanna und atmete erleichtert auf. Dieser Anruf tat ihr gut. Sie telefonierten anderthalb Stunden.
Mittoch, Mitternacht
David verließ Nicole um genau eine Minute nach Mitternacht. Der Aufzug war außer Betrieb, David lief die fünf Stockwerke nach unten. Die Straße war menschenleer, sein Wagen stand etwa dreihundert Meter entfernt. Seine Schrittehallten durch die stille, mondlose Nacht. Er ging schnell, er hatte ein ungutes Gefühl, ihm war, als folgte ihm jemand, doch als er sich umdrehte, war da nur die leere Straße. Er beschleunigte seine Schritte – war da nicht doch jemand hinter ihm? Sein Herz begann zu rasen, Schweiß aus jeder Pore seiner Haut auszutreten. Wieder drehte er sich um, niemand. Die Aufregung der letzten Tage zehrte an seinen Nerven. Angst und Phantome überall.
Er befand sich auf dem Weg durch die Stadt nach Hause. Er hielt an einem Hamburger-Restaurant, bestellte sich einen Cheeseburger und eine Cola. Er würde am Freitag mit Esther ins Kino und hinterher essen gehen. Und erst um Mitternacht würde er sie zu Hause abliefern. Es war ein göttlicher Auftrag. Er war fasziniert von ihrer jugendlichlasziven Ausstrahlung, ihrer Schlagfertigkeit, ihrer Schönheit. Anfangs war er irritiert, ja sogar erschrocken über die Art und Weise, wie Nicole und Esther miteinander umgingen. Später war er nur noch amüsiert, vor allem über die Überlegenheit von Esther, gegen die Nicole verbal keine Chance hatte. Er aß und trank und machte sich auf den Heimweg.
Die Straßen waren voller als sonst, es lag an der Hitze, die die Menschen zu nachtaktiven Schwärmern machte, sie nicht schlafen ließ. In seiner Straße spielten selbst jetzt um Mitternacht noch Kinder, Erwachsene standen an der Trinkhalle und betranken sich und rauchten und philosophierten über das Glück und Unglück dieser Welt. Myriaden von Mücken umtanzten die Laternen, magisch angezogen von dem weißlichen Licht, das am Ende ihren Tod bedeutete. Der Himmel war wolkenlos, und doch waren die Sterne kaum zu sehen, eine dicke Dreckschicht in der Atmosphäre behinderte die Sicht auf den Großen und den Kleinen Wagen und all die anderen Sternbilder, die man sonst in den Sommermonaten sah. Die meisten Fenster waren geöffnet, auf vielen
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