Die Bankerin
Balkonen hing Wäsche zum Trocknen, der penetrante, süßlicheGestank der Farbwerke geisterte wie ein schwerer, unsichtbarer Schemen durch die Häuserschluchten.
David stieg aus und schloß ab. Er mußte an ein paar betrunkenen Jugendlichen vorbei, er hielt den Blick gesenkt, jeder falsche Blick konnte schon als Provokation aufgefaßt werden. Im Treppenhaus stank es nach Fäkalien, einen Stock höher vermengte sich dieser Gestank mit dem nicht minder abstoßenden Geruch von Knoblauch und Gebratenem, und David fragte sich, wer bei dieser Hitze um diese Zeit in der Küche stand und briet. Er ging schneller, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Die Klinke der Flurtür war naß, und was immer es auch war, es ekelte ihn. Die Flurbeleuchtung war wieder einmal ausgefallen, und wahrscheinlich würde es Wochen dauern, bis der Hausmeister sich bequemte, sie reparieren zu lassen, wozu er jedoch einen nüchternen Kopf benötigte, den aber er nur selten hatte. Die Alarmglocke des rechten Aufzugs schrillte. Eine Frau schrie um Hilfe, ein Mann versuchte sie zu beruhigen. Der andere Aufzug hielt gerade im zehnten Stock. Vom Parallelflur drang aus einer der Wohnungen lautes Geschrei von sich streitenden Erwachsenen, ein weinendes Kind.
David hielt den Schlüssel in der Hand, machte schnell die Tür auf und hinter sich wieder zu. Der vordere Teil der Wohnung lag im Dunkeln. Er ging nach hinten, Johanna sortierte, während sie den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt hatte, die von ihr gebügelte Wäsche, das Bügeleisen stand zum Auskühlen am offenen Fenster. Als David eintrat, legte sie sofort auf, kam auf ihn zugeschossen und drückte sich fest an ihn. Sie schlang ihre Arme um ihn, sie zitterte.
»Was ist passiert?« fragte er irritiert.
»Ich weiß es nicht, David, ich weiß es nicht! Ich habe solche furchtbare Angst! Vorhin hat dreimal jemand hier angerufen, die ersten beiden Male hat sich niemand gemeldet, da hat dieser Kerl nur so schwer geatmet und einfach nach einpaar Sekunden wieder aufgelegt. Aber beim dritten Mal hat er was gesagt. Er hat gesagt, ich solle ihm ausrichten, daß es hart für
ihn
werden wird, sehr, sehr hart. Und daß sie
ihn
kriegen werden. Ich habe gefragt, ob er von Thomas spricht, aber er hat mir nicht darauf geantwortet. Mein Gott, was hat Thomas bloß getan? In was für eine Gesellschaft ist er da geraten? Ich habe solche Angst!«
David tätschelte leicht Johannas Rücken. »Komm, Schatz, beruhige dich wieder. Es war bestimmt nur ein übler Scherz … Außerdem, woher willst du wissen, daß sie Thomas und nicht mich meinen? Thomas haben sie doch, wenn sie es waren, schon zugrunde gerichtet. Ich fürchte fast, sie meinen mich. Dennoch halte ich es vorerst noch für einen derben, wenn auch makabren Scherz.«
»Ein derber Scherz? Du hast den Kerl nicht gehört! Er hat meinen Namen genannt und mir zum Schluß noch so unglaublich höhnisch eine gute Nacht und süße Träume gewünscht. Und er hat gelacht wie ein Irrer. Das war kein Scherz, David, ich schwöre es dir! Es ist wie ein Puzzle, und die Teile passen zusammen. Thomas, die Schlange, die zerstochenen Reifen, jetzt diese Anrufe. Es ist wegen Thomas, ich spüre es. Was hat dieser Junge bloß getan? Welcher Teufel hat ihn nur geritten, daß wir alle jetzt so leiden müssen? Sag’s mir!«
»Es ist doch gar nichts bewiesen. Und die Ärzte selber sagen, daß Thomas …«
»… daß Thomas sich nicht erinnern kann! Aber sie sagen nicht, daß er
nicht
mit Drogen gedealt hat oder sogar noch Schrecklicheres begangen hat. Hier will sich jemand rächen, und weil Thomas im Augenblick außer Reichweite ist, müssen wir herhalten! Kapierst du das? Wir sind seine Eltern, und gegen uns richtet sich jetzt ihr Zorn! Wir, wir, wir!«
Sie löste sich von David und sah ihn aus tieftraurigen Augen an. Sie setzte sich aufs Bett, die Beine eng geschlossen, die Hände gefaltet, und auf beinahe groteske Weise erinnerteihn diese Haltung an die, die früher seine Mutter oft eingenommen hatte, um ihre Demut und Ehrfurcht vor Gott äußerlich zu bekunden. Jetzt fehlte nur noch der Rosenkranz in Johannas Händen und die Kerze. David lehnte sich gegen den Schrank.
Sie fuhr leise fort: »Wir, David, wir müssen büßen! Und wir wissen nicht einmal, wofür. Was haben wir nur falsch gemacht, was? Warum müssen wir für etwas büßen, wofür wir nichts können? Sicher haben wir Thomas lange Zeit all das bieten können, was er sich erhofft und erträumt hatte. Und
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