Die Begierde: Fallen Angels 4 (German Edition)
geparkt hatte.
Sie fuhr nicht in die Redaktion.
Sie lenkte den Wagen stadtauswärts, hielt brav an Ampeln, setzte rechtzeitig den Blinker und drängelte nicht. Aber darüber hinaus hatte sie keine Ahnung, wohin sie wollte.
Bis das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs vor ihr aufragte.
Innerlich stöhnte sie auf. Sie wollte das hier nicht. Nicht zu allem anderen, was gerade in ihrem Leben los war. Andererseits, nach dem Motto »Geteiltes Leid ist halbes Leid« war das Timing vielleicht ideal.
Das Grab ihres Vaters zu finden bereitete ihr keinerlei Schwierigkeiten, und als sie auf den Seitenstreifen fuhr, war sie nicht überrascht, die Stelle mit allen möglichen Frühlingsblumen bepflanzt zu sehen: Narzissen, Tulpen, kleinen Krokussen.
Ihre Mutter hatte natürlich mitgedacht. Und zweifellos kam sie nicht nur an besonderen Tagen, sondern regelmäßig her.
Mels stieg aus und überquerte den hellgrünen Rasen. Die frischen Grashalme federten sofort wieder zurück, sodass ihre Spur nicht zu erkennen war.
Andere Grabsteine waren verdreckt, kleine Stückchen Rinde darauf oder mit Moos und Flechten bewachsen. Nicht so der ihres Vaters. Seiner war blitzblank poliert, nichts deutete darauf hin, dass bereits dreimal der Kreis der Jahreszeiten vorübergezogen war.
Als Mels sich schließlich hinkniete, war es, um über das Kreuz zu streichen, das tief in den grauen Granit gemeißelt war.
Sie hörte wieder Matthias’ volle Stimme in ihrem Kopf, als er von der Hölle gesprochen hatte, mit derselben Überzeugung, mit der sie vielleicht über die Arbeit bei der Zeitung oder das Wohnen in Caldwell oder den Verlust eines Vaters geredet hätte.
Eigene Erfahrung hatte seine Worte geprägt.
Erneut fuhr Mels mit den Fingerspitzen über das Kreuz. Komisch, früher hatte sie sich nie groß um religiöse Zeichen auf Grabsteinen geschert, ob es nun die Engel mit den erhobenen Flügeln waren oder die Jungfrau Maria mit dem gesenkten Kopf oder der Davidstern – egal welche Konfession, sie hatte das immer nur als Schmuck betrachtet, nicht einem geistlichen Zweck dienend.
In diesem Moment aber empfand sie es anders.
Sie war froh, dass die Ruhestätte ihres Vaters von einem Symbol des Glaubens markiert war, und sie war froh, dass er sonntags immer zur Kirche gegangen war – obwohl es sie als Kind immer genervt hatte, an dem Tag nicht ausschlafen zu dürfen.
Auf einmal betete sie mit einer brennenden, unerfindlichen Angst, dass er im Himmel war.
Einen geliebten Menschen in der Hölle zu wissen, wäre … unvorstellbar.
Jim verlor seinen gottverlassenen, verwünschten Verstand.
Inzwischen war Matthias’ schlaffer Körper auf das Sofa gesunken. Sein Mund bewegte sich, als versuche er zu sprechen, aber es kam nichts heraus. Als wäre Stau auf seiner kognitiven Autobahn.
»Sprich mit mir«, bellte Jim, um zu dem Burschen durchzudringen. »Kanntest du sie? Hast du sie gesehen? Ist sie okay?«
Erneut öffneten und schlossen die Lippen sich, besonders als Jim ihn wieder schüttelte. »Matthias!«
»Das Mädchen – sie ist da drin.« Matthias riss sich ungelenk die Sonnenbrille vom Gesicht und sah Jim direkt in die Augen; aber er schien nicht auf das, was sich genau vor ihm befand, fokussiert. »In der Hölle. Die blonde Frau ist da, ich habe sie gesehen.«
»Geht es ihr gut?« Saublöde Frage. Natürlich ging es Sissy nicht gut. »Was …«
»Ich war wirklich da.« Matthias versuchte sich aufzurichten, als würde ihm die Vertikale vielleicht helfen, den Kopf klarzukriegen. »Und ich wurde zurückgebracht, um … warum wurde ich zurückgebracht? Was soll ich tun?«
Obwohl er mental einigermaßen blockiert von Sissy war, zwang Jim sich, wieder ins Spiel zu kommen: Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. Das war seine Pforte, sein Zugang.
Aber Scheiße … Sissy …
Jim räusperte sich. Zweimal. »Äh, du bist zurück, weil du dieses Mal unbedingt die richtige Wahl treffen musst.«
»Wahl?«
»Am Scheideweg.« Jim betete, dass er sich einigermaßen verständlich ausdrückte. »Du wirst, nun ja, du wirst an einen Punkt kommen, an dem du dich entscheiden musst, und wenn du nicht dorthin zurückwillst, wo du warst, dann musst du den rechtschaffenen Weg wählen, nicht den, also, an den du gewöhnt bist.«
»Dann stimmt es? Das mit dem Himmel und der Hölle?«
»Und du hast eine zweite Chance erhalten.«
»Warum?«
»Der Teufel schummelt.«
Plötzlich sah Matthias ihn starr an. »Du warst da. Da unten … oh mein Gott, du
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