Die Begierde: Fallen Angels 4 (German Edition)
starren, während sein Vater oben am Treppenabsatz um die Ecke bog und anhielt.
Die Haut seines hageren Gesichts war so wettergegerbt, dass sie aussah wie Kuhleder. Auf einer Seite des Gebisses entblößte er einen fehlenden Zahn, als er lächelte wie ein Serienmörder.
Sein Vater würde sterben, dachte Matthias. Genau hier, genau jetzt.
Auch wenn das angesichts der Unterschiede in ihrer Statur noch so unwahrscheinlich war, würde der Mann in wenigen Augenblicken auf dem Boden aufschlagen und tot sein …
Unvermittelt spürte Matthias, wie er zu sprechen begann, seine Lippen bildeten Laute, die nicht zu ihm durchdrangen. Auf seinen Vater hatten sie allerdings durchaus eine Wirkung.
Der Gesichtsausdruck veränderte sich, das Lächeln erstarb, die Zahnlücke verschwand, als die Mundwinkel herabsanken. Wut verengte die stahlblauen Augen, aber das blieb nicht so. Schock folgte. Als wäre etwas, dessen er sich absolut sicher gewesen war, plötzlich weniger gewiss.
Und die ganze Zeit sprach Matthias weiter, langsam und stetig.
Hier hatte alles angefangen, dachte er: Bei diesem Mann, diesem abgrundtief bösen Mann, mit dem er zu lange allein gelebt hatte, diesem kranken Schwein, das ihn »aufgezogen« hatte. Aber jetzt war der Moment der Abrechnung gekommen, und sein jüngeres Ich empfand nichts, als es die Worte aussprach. Er wusste nur, dass es das Monster endlich an die Kette legte.
Die Hand seines Vaters griff nach dem Latz seiner Hose, genau über dem Herzen, zerknautschte den Stoff; die schmutzigen, rissigen Nägel gruben sich ein.
Und immer noch redete Matthias.
Hinunter auf den Boden. Sein Vater ging auf die Knie, streckte die freie Hand nach dem Geländer aus, riss den Mund so weit auf, dass man die anderen Zahnlücken hinten erkennen konnte.
Er hätte niemals damit gerechnet, erwischt zu werden. Das brachte ihn um.
Also, genau genommen war es natürlich der Herzinfarkt, der ihn erledigte. Aber die zugrunde liegende Ursache war, dass ihr hässliches Geheimnis ans Licht gekommen war.
Der Tod ließ sich schön viel Zeit.
Als sein Vater auf den Rücken fiel, die Hand jetzt unter der linken Achsel, als hätte er höllische Schmerzen, stand Matthias auf und beobachtete den Sterbeprozess in allen Einzelheiten. Offenbar fiel seinem Vater das Atmen schwer, der Brustkorb blähte sich ohne viel Erfolg. Unter der Sonnenbräune wich ihm die Farbe aus dem Gesicht.
Als die Ansicht wieder auf sein Zimmer wechselte, begriff Matthias, dass er sich umgedreht hatte und zum Radio ging, sich setzte und es anstellte. Immer noch strampelte sein Vater sich ab wie eine Fliege auf der Fensterbank, die Arme und Beine zuckten in diese Richtung und in jene, der Kopf fiel in den Nacken, als könnte ein anderer Winkel den Sauerstofffluss fördern.
Aber das würde nichts helfen. Selbst ein fünfzehnjähriger Bauernjunge wusste, dass, wenn das Herz nicht mehr pumpte, das Gehirn und die lebenswichtigen Organe verhungern würden, egal, wie oft man tief Luft holte.
Dort draußen in der Prärie gab es nur fünf Sender, und drei davon waren religiös. Die anderen beiden spielten Country und Pop, und er wechselte mit dem Knopf zwischen den beiden hin und her. Ab und zu ließ er, einfach weil er wusste, dass sein Vater bald seinem Schöpfer gegenübertreten würde, eine Predigt erklingen.
Das Einzige, was Matthias fühlte, war Enttäuschung, dass er keinen Hardrock fand. Van Halen schien ihm um einiges besser zum Gezappel seines Vaters zu passen als der Langweiler Conway Twitty oder dieser Lahmarsch Phil Collins.
Abgesehen davon war er vollkommen ruhig, ausgeglichen, unbewegt.
Es war ihm sogar völlig egal, dass die Misshandlungen damit endgültig vorbei waren. Er hatte nur sehen wollen, ob er den alten Mann loswerden konnte, wie bei einem wissenschaftlichen Experiment: Er hatte den Plan ausgearbeitet, alles vorbereitet, war an jenem Morgen aufgewacht und hatte sich entschlossen, den ersten Dominostein in der Schule umzuwerfen.
Mit Hilfe seiner besonders leicht beeinflussbaren, weichherzigen, sehr religiösen Klassenlehrerin.
Draußen im Flur hatte er ihr etwas vorgeweint und ihr von der Hölle erzählt, in der er lebte. Die Tränen hatten lediglich als extra Motivation für sie gedient. In Wahrheit hatte die große Offenbarung ihn innerlich nicht stärker berührt als ein Satz frischer Kleidung: Er war eiskalt gewesen, hatte weder Genugtuung darüber empfunden, dass der erste Schritt getan war, noch Aufregung, dass es endlich
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