Die Begnadigung
Gefängnis sitzt? Allenfalls ein reicher Mensch – vielleicht.
Seine Mutter schrieb ihm gelegentlich, aber sie war einundneunzig und lebte in einem billigen Pflegeheim in der Nähe von Oakland. Bei jedem ihrer Briefe hatte Backman das Gefühl, es wäre der letzte. Er selbst schrieb ihr einmal pro Woche, bezweifelte aber, dass sie seine Briefe noch lesen konnte. Sicher war nur, dass keiner der Betreuer Zeit oder Interesse hatte, sie seiner Mutter vorzulesen. Sie bedankte sich zwar immer, ging aber nie auf etwas ein, das er in seinen Briefen erwähnt hatte. Bei besonderen Anlässen schickte er ihr eine Postkarte, und in einem ihrer Briefe gestand sie, niemand sonst erinnere sich an ihren Geburtstag.
Die Stiefel kamen ihm schwer vor, aber schließlich war er während der letzten sechs Jahre meistens in Socken herumgelaufen. Schon merkwürdig, woran man dachte, wenn man ohne jede Vorwarnung entlassen wurde. Wann hatte er zum letzten Mal Stiefel getragen? Und wie lange würde es dauern, bis er diese verdammten Knobelbecher wieder ausziehen konnte?
Er blieb einen Augenblick stehen und schaute zum Himmel auf. Für eine Stunde am Tag hatte man es ihm gestattet, sich auf einem kleinen Fleckchen Rasen vor dem Gefängnisgebäude die Beine zu vertreten. Immer allein, aber stets unter den Augen eines Wärters. Als ob er, Joel Backman, ein ehemaliger Anwalt, der sein Leben lang nie vor Wut mit einer Pistole herumgeschossen hatte, plötzlich gefährlich werden und jemanden angreifen würde. Der »Garten« war mit einem drei Meter hohen Maschendrahtzaun mit Stacheldraht darauf eingefasst. Dahinter befand sich ein trockener Entwässerungskanal, jenseits davon erstreckte sich die unendliche baumlose Prärie Richtung Texas, wie er glaubte.
Mr Sizemore und Special Agent Adair führten ihn zu einem dunkelgrünen Geländewagen, der unauffällig wirken sollte, den ein genauer Beobachter aber durchaus für das Fahrzeug einer Regierungsbehörde halten konnte. Joel kroch allein auf die Rückbank und begann zu beten. Er kniff die Augen zu, biss die Zähne zusammen und bat Gott, dass der Motor anspringen und der Wagen sich in Bewegung setzen möge. Er flehte, dass der Papierkram in Ordnung war und das Tor sich öffnen würde. Bitte, lieber Gott, keine grausamen Scherze, dies darf nicht nur ein Traum sein.
Zwanzig Minuten lang herrschte Schweigen, dann ergriff Sizemore das Wort. »Sagen Sie, Mr Backman, haben Sie Hunger?«
Mr Backman hatte das Beten eingestellt und zu weinen begonnen. Obwohl er die Augen noch nicht wieder geöffnet hatte, spürte er, dass der Wagen sich mit konstanter Geschwindigkeit bewegte. Er lag auf der Rückbank und versuchte, gegen seine Emotionen anzukämpfen, wurde aber von ihnen überwältigt.
»Ja«, brachte er schließlich hervor. Er setzte sich auf, schaute aus dem Fenster und sah ein grünes Verkehrsschild für die Abzweigung nach Perry vorbeifliegen. Sie hielten auf dem Parkplatz einer Raststätte, die etwa dreihundert Meter neben der Interstate lag. Joel sah die schweren Laster mit den lauten Dieselmotoren, lauschte einen Moment und schaute wieder zum Himmel auf. Der Mond war halb voll.
»Haben wir es eilig?«, fragte er Sizemore, als sie die Raststätte betraten.
»Bislang liegen wir in der Zeit.«
Sie nahmen an einem Tisch an der Fensterfront Platz, und Joel schaute hinaus. Er bestellte gerösteten Toast und Obst. Da er so lange praktisch nur von Haferschleim gelebt hatte, wollte er seinen Magen nicht überfordern. Von einem Gespräch konnte kaum die Rede sein. Seine beiden Begleiter waren dazu abgerichtet, möglichst wenig zu sagen, und hatten zum Smalltalk überhaupt kein Talent. Aber es hätte Joel ohnehin nicht interessiert, was sie zu sagen gehabt hätten.
Er bemühte sich, nicht zu lächeln. Später sollte Sizemore zu Protokoll geben, Backman habe gelegentlich zur Eingangstür hinübergeblickt und die anderen Gäste genau im Auge behalten. Verängstigt habe er nicht gewirkt; ganz im Gegenteil. Nach dem Abklingen des ersten Schocks habe er sich schnell an die neue Situation gewöhnt und sei etwas lebhafter geworden. Er habe zweimal Toast geordert, ihn hastig hinuntergeschlungen und vier Tassen schwarzen Kaffee getrunken.
Kurz nach vier Uhr morgens fuhren sie durch das Tor des Militärstützpunktes Fort Summit in Texas, der in der Nähe von Brinkley lag. Joel wurde zum Militärkrankenhaus gebracht und von zwei Ärzten untersucht. Er hatte eine schwere Erkältung und war insgesamt
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