Die Begnadigung
nicht noch einmal so leicht abwimmeln, schließlich wollten ihre Vorgesetzten zu Hause Ergebnisse sehen.
Intuitiv vermutete er, dass Luigi hinter dem Diebstahl seiner Tasche steckte, obwohl er sich keineswegs sicher war. Das Feuer war kein echter Brand gewesen, mehr ein Ablenkungsmanöver, damit sich jemand im Schutz der Dunkelheit die Tasche schnappen konnte.
Er traute Luigi nicht, weil er niemandem traute.
Sie hatten sein cleveres kleines Smartphone, in dem irgendwo Neils Codes steckten. Ob sie zu knacken waren? Würde die Spur zu seinem Sohn führen? Marco hatte nicht die geringste Ahnung, wie diese Dinger funktionierten, was möglich war, was nicht.
Der Drang, Bologna zu verlassen, war übermächtig. Wohin er wollte und wie er dorthin gelangen sollte, das waren Fragen, auf die er sich noch keine Antwort überlegt hatte. Er fühlte sich verletzlich, wie er so durch die Stadt wanderte, fast hilflos. Hinter jedem Gesicht, das ihn ansah, konnte jemand stecken, der seinen echten Namen kannte. An einer überfüllten Bushaltestelle drängte er sich an der Schlange vorbei und stieg in einen Bus, ohne zu wissen, wohin er wollte. Der Bus war voller müder Pendler, die sich Schulter an Schulter durchrütteln ließen. Durch die Fenster beobachtete er die Fußgänger unter den belebten Arkaden des Stadtzentrums.
In letzter Sekunde sprang er aus dem Bus und ging dreihundert Meter die Via San Vitale entlang, bis er einen anderen Bus sah. Er fuhr fast eine Stunde lang im Kreis und stieg schließlich in der Nähe des Bahnhofs aus. Er ließ sich mit der Menge treiben und rannte dann quer über die Via dell’Indipendenza zum Busbahnhof. Drinnen studierte er den Fahrplan, stellte fest, dass in zehn Minuten ein Bus nach Piacenza fuhr. Das lag eineinhalb Stunden Fahrtzeit mit fünf Zwischenstopps entfernt. Für dreißig Euro kaufte er sich eine Fahrkarte und versteckte sich bis zur letzten Minute in der Toilette. Der Bus war so gut wie voll. Die Sitze waren breit und hatten hohe Kopfstützen, und während sich der Bus langsam durch den dichten Verkehr schob, wäre Marco fast eingenickt. Doch er riss sich zusammen. Schlafen kam nicht in Frage.
Es war so weit – das war die Flucht, an die er seit seinem ersten Tag in Bologna gedacht hatte. Er war zu dem Schluss gekommen, dass er verschwinden, Luigi zurücklassen und seinen eigenen Weg finden musste, wenn er überleben wollte. Oft hatte er sich gefragt, wie und wann genau die Flucht beginnen würde. Was würde sie auslösen? Ein Gesicht? Eine Drohung? Würde er Bus oder Zug nehmen, Taxi oder Flugzeug? Wohin würde er sich wenden? Wo sich verstecken? Würde er sich mit seinem dürftigen Italienisch durchschlagen können? Wie viel Geld würde er zu diesem Zeitpunkt haben?
Nun war es so weit. Die Dinge waren in Bewegung geraten. Es gab kein Zurück mehr.
Der erste Halt war das kleine Dorf Bazzano, fünfzehn Kilometer westlich von Bologna. Marco stieg aus und nicht mehr ein. Wieder versteckte er sich in der Toilette des Busbahnhofs, bis der Bus abgefahren war. Dann ging er über die Straße zu einem Lokal, wo er ein Bier bestellte und sich beim Besitzer nach dem nächsten Hotel erkundigte.
Bei seinem zweiten Bier fragte er nach Zügen und erfuhr, dass Bazzano keinen Bahnhof besaß. Nur Busse, erklärte der Besitzer.
Das Hotel Cantino befand sich fünf- oder sechshundert Meter entfernt nahe beim Zentrum. Es war dunkel, als er dort ankam – ohne jegliches Gepäck, was der Signora an der Rezeption nicht entging.
»Ich hätte gern ein Zimmer«, sagte er auf Italienisch.
»Für wie viele Nächte?«
»Nur eine.«
»Das Zimmer kostet fünfundfünfzig Euro.«
»In Ordnung.«
»Ihren Pass, bitte.«
»Den habe ich leider verloren.«
Misstrauisch zog sie die gezupften und gemalten Augenbrauen hoch. Dann schüttelte sie den Kopf. »Tut mir Leid.«
Marco legte zwei Hundert-Euro-Scheine auf die Theke vor ihr. Es war klar, was er wollte: Wenn sie den Papierkram vergaß und ihm einen Schlüssel gab, gehörte das Geld ihr.
Noch mehr Kopfschütteln, noch mehr Stirnrunzeln.
»Sie müssen einen Pass haben.« Damit verschränkte sie die Arme vor der Brust, reckte herausfordernd das Kinn und bereitete sich auf den nächsten Schlagabtausch vor. Gegen sie kam er nicht an.
Er wanderte durch die Straßen des fremden Ortes. In einem Lokal trank er einen Kaffee. Keinen Alkohol mehr, er brauchte jetzt einen klaren Kopf.
»Wo finde ich ein Taxi?«, fragte er den Mann hinter dem Tresen.
»Am
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