Die Begnadigung
verlassen muss.«
»Wohin wollen Sie?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich muss aus Italien, aus Europa raus, irgendwohin, wo ich wieder untertauchen kann.«
»Wie lange müssen Sie sich versteckt halten?«
»Lange. Genau weiß ich es nicht.«
Sie sah ihn unverwandt an. Ihr Blick war kühl, aber er erwiderte ihn, denn ihre Augen waren schön, auch wenn sie eisige Kälte verströmten.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Nicht Marco Lazzeri.«
»Wovor laufen Sie weg?«
»Vor meiner Vergangenheit, und die ist gerade dabei, mich einzuholen. Ich bin kein Verbrecher, Francesca. Ich war mal Anwalt und bin in Schwierigkeiten geraten. Ich war im Gefängnis, dann wurde mir die Reststrafe erlassen. Ich bin kein schlechter Mensch.«
»Warum ist man hinter Ihnen her?«
»Es geht um ein Geschäft, das ich vor sechs Jahren arrangiert habe. Ein paar sehr unangenehme Menschen sind nicht damit zufrieden, wie die Sache gelaufen ist. Sie geben mir die Schuld daran und wollen mich finden.«
»Um Sie zu töten?«
»Ja, genau das haben sie vor.«
»Das ist sehr verwirrend. Warum sind Sie hergekommen? Warum hat Luigi Ihnen geholfen? Warum hat er mich und Ermanno engagiert? Ich verstehe das nicht.«
»Und ich habe keine Antwort auf diese Fragen. Vor zwei Monaten dachte ich, ich würde noch vierzehn Jahre im Gefängnis sitzen. Plötzlich war ich frei, besaß eine neue Identität und wurde nach Italien verfrachtet, zuerst nach Treviso, dann nach Bologna. Ich vermute, sie wollen mich hier töten.«
»Hier? In Bologna!«
Er nickte und warf einen Blick in Richtung Küche, wo nun Signora Altonelli mit einem Tablett mit Kaffee und einem noch nicht angeschnittenen Birnenkuchen erschien. Als sie Marco auf einem kleinen Teller ein Stück davon servierte, wurde ihm bewusst, dass er seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen hatte.
Seit dem Mittagessen mit Luigi, bei dem ihm das Smartphone gestohlen worden war. Er dachte an Neal. Hoffentlich war sein Sohn in Sicherheit.
»Köstlich«, sagte er auf Italienisch zu Signora Altonelli. Francesca aß nichts. Sie beobachtete jede seiner Bewegungen, jeden Bissen, jeden Schluck Kaffee.
»Für wen arbeitet Luigi?«, fragte sie, als ihre Mutter wieder in der Küche verschwunden war.
»Ich bin mir nicht sicher. Vermutlich für die CIA. Sie kennen die CIA?«
»Ja, ich lese Spionageromane. Die CIA hat Sie hergebracht?«
»Ich gehe davon aus, dass mich die CIA aus dem Gefängnis geholt, außer Landes gebracht und hier in Bologna in einem sicheren Haus versteckt hat, während überlegt wurde, was man mit mir anfangen soll.«
»Wollen die Sie umbringen?«
»Schon möglich.«
»Luigi?«
»Kann sein.«
Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch und spielte eine Weile mit einer Haarsträhne. »Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte sie und erhob sich.
»Nein, danke.«
»Ich brauche Bewegung«, erklärte sie, wobei sie vorsichtig ihren linken Fuß belastete. Sie humpelte langsam in die Küche, wo nach einem Augenblick der Stille ein Streit losbrach. Es kam zu einem hitzigen Wortwechsel zwischen ihr und ihrer Mutter, der in einem deutlich vernehmbaren, erbosten Flüsterton geführt wurde.
Der Streit zog sich ein paar Minuten lang hin, erstarb und flackerte wieder auf. Offenbar wollte keine von beiden nachgeben. Schließlich kehrte Francesca mit einer kleinen Flasche San Pellegrino zurück und setzte sich wieder auf das Sofa.
»Was war los?«, wollte er wissen.
»Ich habe ihr gesagt, dass Sie heute Nacht hier schlafen wollen. Das hat sie missverstanden.«
»Keine Sorge, wenn nötig übernachte ich im Wandschrank. Mir ist das egal.«
»Sie ist sehr altmodisch.«
»Bleibt sie heute Nacht hier?«
»Jetzt schon.«
»Geben Sie mir einfach ein Kissen, ich schlafe auf dem Küchentisch.«
Als Signora Altonelli das Kaffeegeschirr abräumte, war sie wie verwandelt. Sie funkelte Marco an, als hätte er ihrer Tochter unsittliche Anträge gemacht, und Francesca hätte sie offenbar am liebsten den Hintern versohlt. Ein paar Minuten lang machte sie sich schmollend in der Küche zu schaffen, dann verschwand sie irgendwo hinten in der Wohnung.
»Sind Sie müde?«, fragte Francesca.
»Nein. Sie?«
»Nein. Lassen Sie uns reden.«
»Okay.«
»Erzählen Sie mir alles.«
Nach ein paar Stunden Schlaf auf dem Sofa erwachte er, weil Francesca ihn an der Schulter rüttelte. »Ich habe eine Idee«, sagte sie. »Kommen Sie mit.«
Sie gingen in die Küche. Die Uhr dort zeigte Viertel nach vier. Auf der
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