Die Begnadigung
Arbeitsplatte neben dem Spülbecken entdeckte er einen Einwegrasierer, eine Dose Rasierschaum, eine Brille und eine Flasche mit einem Mittel für die Haare, dessen genauen Zweck er nicht entziffern konnte. Sie gab ihm etwas in weinrotes Leder Gebundenes.
»Das ist ein Pass. Giovannis Pass.«
Er ließ ihn fast fallen. »Nein, das kann ich nicht …«
»Doch, Sie können. Er braucht ihn nicht mehr. Ich bestehe darauf.«
Marco öffnete ihn langsam und blickte in das distinguierte Gesicht eines Mannes, den er nie gesehen hatte. Das Dokument war noch sieben Monate lang gültig, also musste das Foto fast fünf Jahre alt sein. Er suchte nach dem Geburtsdatum. Giovanni war mittlerweile achtundsechzig, gut zwanzig Jahre älter als seine Frau.
Während der Taxifahrt von Bazzano zurück nach Bologna hatte er an nichts anderes denken können als an einen Pass. Er hatte in Erwägung gezogen, einen arglosen Touristen zu bestehlen. Er hatte überlegt, Papiere auf dem Schwarzmarkt zu kaufen, wusste aber nicht, wohin er sich wenden sollte. Und ihm war Giovanni eingefallen, dessen Pass bald nutzlos sein würde. Null und nichtig.
Aber er hatte den Gedanken verworfen, weil er Francesca nicht gefährden wollte. Was, wenn er erwischt wurde? Was, wenn ein Grenzbeamter am Flughafen misstrauisch wurde und einen Vorgesetzten rief? Seine größte Angst war allerdings, dass ihn seine Verfolger erwischten. Durch den Pass konnte sie in die Sache hineingezogen werden, und das wollte er auf keinen Fall.
»Sind Sie sicher?«, fragte er. Jetzt, wo er den Pass in den Händen hielt, wollte er ihn nicht mehr loslassen.
»Bitte, Marco, ich will helfen. Giovanni würde darauf bestehen.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Wir haben zu tun. In zwei Stunden geht ein Bus nach Parma, das wäre ein sicherer Weg aus der Stadt heraus.«
»Ich will nach Mailand.«
»Gute Idee.«
Sie nahm den Pass und öffnete ihn. Gemeinsam studierten sie das Foto ihres Mannes. »Fangen wir mit dem Gestrüpp um Ihren Mund an«, erklärte sie.
Zehn Minuten später waren Schnauzer und Kinnbart verschwunden. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, den sie für ihn über das Spülbecken hielt, war vollständig glatt rasiert. Giovanni hatte mit dreiundsechzig weniger graue Haare gehabt als Marco mit zweiundfünfzig, aber er war auch nicht von einem amerikanischen Bundesgericht verurteilt worden und hatte nicht sechs Jahre im Gefängnis gesessen.
Er nahm an, dass sie das Tönungsmittel sonst für ihre Haare verwendete, wollte aber nicht fragen. Laut Packung dauerte die Behandlung nur eine Stunde. Er saß mit einem Handtuch um die Schultern auf einem Stuhl vor dem Tisch, während sie die Lösung sanft einmassierte. Es wurde nur wenig gesprochen. Ihre Mutter schlief. Ihr Mann lag, von Medikamenten betäubt, regungslos im Bett.
Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte Giovanni, ein typischer Professor, eine hellbraune Schildpattbrille getragen. Als Marco sie aufsetzte, war er verblüfft, wie sehr sich sein Äußeres verändert hatte. Sein Haar war viel dunkler, seine Augen wirkten ganz anders. Er erkannte sich selbst kaum wieder.
»Nicht schlecht«, lobte Francesca ihre eigene Arbeit.
»Für den Augenblick muss das reichen.«
Sie brachte ihm eine Sportjacke aus marineblauem Kord, deren Besatz an den Ellbogen blank gescheuerte Stellen zeigte. »Er ist etwa fünf Zentimeter kleiner als Sie«, meinte sie. Die Ärmel waren zwei Zentimeter zu kurz. Früher hätte die Jacke über seiner Brust gespannt, aber im Augenblick war Marco so dünn, dass ihm alles passte.
»Wie heißen Sie wirklich?«, fragte sie, während sie an den Ärmeln zupfte und den Kragen zurechtrückte.
»Joel.«
»Ich finde, Sie sollten mit einer Aktentasche reisen. Das wirkt natürlicher.«
Dagegen war nichts zu sagen. Francescas Großzügigkeit war überwältigend, aber Marco hatte sie auch bitter nötig. Sie verschwand und kam mit einer wunderschönen alten Aktentasche aus braunem Leder mit silberner Schnalle zurück.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, murmelte er.
»Das ist Giovannis Lieblingstasche. Ich habe sie ihm vor zwanzig Jahren geschenkt. Italienisches Leder.«
»Natürlich.«
»Was werden Sie sagen, falls Sie mit dem Pass erwischt werden?«
»Dass ich ihn gestohlen habe. Sie sind meine Lehrerin. Ich war bei Ihnen zu Gast und habe die Gelegenheit genutzt, um Ihre Schubladen zu durchwühlen und den Pass Ihres Mannes zu entwenden.«
»Sie sind ein guter
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