Die Begnadigung
drei Gründen hier. Ich möchte an mein Tresorfach, meinen Kontostand prüfen und zehntausend Dollar in bar abheben. Danach sind möglicherweise noch ein oder zwei andere Dinge zu erledigen.«
Van Thiessen schob sich einen kleinen Keks in den Mund und kaute hektisch. »Natürlich. Ich glaube nicht, dass es mit irgendeinem Punkt Probleme geben könnte.«
»Warum sollte es Probleme geben?«
»Es gibt keine, ich brauche nur ein paar Minuten.«
»Wofür?«
»Ich muss mit einem meiner Kollegen sprechen.«
»Können Sie das bitte sofort erledigen?«
Van Thiessen schoss geradezu aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Das bohrende Gefühl in Joels Magengrube hatte nichts mit Hunger zu tun. Falls sein Plan scheiterte, wäre er aufgeschmissen. Dann würde er die Bank mit leeren Händen verlassen, vielleicht am Paradeplatz eine Straßenbahn nehmen – aber wohin? Seine Flucht wäre zu Ende. Er würde sich wieder in Marco verwandeln, und Marco würde ihm früher oder später den Tod bringen.
Die Zeit schien stillzustehen. Dann fiel ihm der Straferlass ein. Damit war er kein Krimineller mehr. Die US-Regierung hatte keinerlei Recht, Druck auf die Schweizer auszuüben, damit sie sein Konto einfroren. Außerdem froren die Schweizer keine Konten ein. Die Schweizer ließen sich nicht unter Druck setzen. Deswegen lagen in ihren Banken auch Beutegelder aus der gesamten Welt.
So war die Schweiz.
Elke kam und bat ihn, ihr nach unten zu folgen. In früheren Zeiten wäre er ihr überallhin gefolgt, aber das war vorbei.
Den Tresorraum kannte er von seinem ersten Besuch. Er befand sich im Keller, mehrere Ebenen unter der Erdoberfläche, wobei die Kunden nie wussten, wie tief es nach unten ging. Alle Türen waren mindestens dreißig Zentimeter dick, sämtliche Wände schienen aus Blei zu sein, alle Decken waren mit Überwachungskameras ausgestattet. Elke reichte ihn erneut an van Thiessen weiter.
Die Fingerabdrücke beider Daumen wurden auf Übereinstimmung geprüft. Ein optischer Scanner fotografierte ihn. »Nummer sieben.« Van Thiessen deutete auf eine Tür. »Ich treffe Sie hinten.« Damit verschwand er.
Joel ging durch einen kurzen Korridor an sechs fensterlosen Stahltüren vorbei, bis er zu einer siebten kam. Er drückte einen Knopf, der einen knarrenden und klickenden Mechanismus im Inneren der Tür in Gang setzte.
Schließlich öffnete sie sich, und er trat ein. Van Thiessen erwartete ihn bereits.
Der Raum hatte die Form eines Quadrats mit einer Seitenlänge von vier Metern. Drei Wände waren mit Tresorfächern bedeckt, von denen die meisten ein wenig größer als ein Schuhkarton waren.
»Ihre Tresornummer?«, fragte er.
»L2270.«
»Das ist richtig.«
Van Thiessen trat rechts neben Joel und beugte sich ein wenig zum Fach L2270 herab. Dann gab er auf der kleinen Tastatur einige Zahlen ein und richtete sich wieder auf. »Bitte sehr.«
Unter seinem wachsamen Blick trat Joel an das Fach und gab seinen Code ein. Dabei flüsterte er die Zahlen, die sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hatten, leise vor sich hin. »Einundachtzig, fünfundfünfzig, vierundneunzig, dreiundneunzig, dreiundzwanzig.« Ein kleines grünes Licht vorn an der Tastatur begann zu blinken.
Van Thiessen lächelte. »Ich warte vorn auf Sie. Rufen Sie an, wenn Sie fertig sind.«
Als er allein war, zog Joel die Stahlschatulle aus ihrem Fach und hob den Deckel. Er nahm den gepolsterten Briefumschlag heraus und öffnete ihn. Sekunden später hielt er die vier Jaz-Disketten in der Hand, die einmal eine Milliarde Dollar wert gewesen waren.
Er gönnte sich sechzig Sekunden. Schließlich war er im Augenblick in Sicherheit, da musste Zeit sein für eine kurze Besinnung.
Er dachte an Safi Mirza, Fazal Sharif und Faruk Khan, die brillanten jungen Männer, die »Neptun« entdeckt und die umfangreiche Software geschrieben hatten, mit denen sich das System manipulieren ließ. Inzwischen waren sie alle tot. Ihre naive Gier hatte sie umgebracht, und die Wahl ihres Partners hatte nicht unwesentlich dazu beigetragen. Er dachte an Jacy Hubbard, den dreisten, geselligen, unendlich charismatischen Gauner, der die Wähler sein ganzes Leben lang hinters Licht geführt hatte und schließlich zu gierig geworden war. Er dachte an Carl Pratt, Kim Bolling und Dutzende andere Partner, die er in die florierende Kanzlei gebracht hatte, und an die Leben, die durch das, was er in der Hand hielt, zerstört worden waren. Er dachte an Neal und die Demütigung,
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