Die Begnadigung
entfernt.
»Das Budget wurde wieder gekürzt«, murmelte er, während er Luigi durch den engen Eingangsraum zur Treppe folgte.
»Ist nur für ein paar Tage«, sagte Luigi.
»Und dann?« Marco kam mit seinen Taschen kaum die schmale Treppe hinauf. Luigi hatte nichts dabei. Zum Glück war sein Zimmer gleich im ersten Stock, ein ziemlich kleiner Raum mit einem viel zu kleinen Bett und Vorhängen, die schon länger nicht mehr geöffnet worden waren.
»Treviso gefällt mir besser«, bemerkte Marco und ließ seinen Blick über die Tapeten gleiten.
Luigi zog die Vorhänge auf. Das Sonnenlicht machte es nicht viel besser. »Nicht schlecht«, meinte er ohne Überzeugung.
»Meine Gefängniszelle war gemütlicher.«
»Sie jammern ziemlich viel.«
»Aus gutem Grund.«
»Packen Sie aus. Wir treffen uns in zehn Minuten unten. Ermanno wartet.«
Ermanno hatte der plötzliche Ortswechsel offenbar ebenso überraschend getroffen wie Marco. Er war nervös und aufgeregt, als wäre er ihnen seit Treviso hinterhergefahren. Sie gingen zu einem heruntergekommenen Wohngebäude ein paar Straßen weiter. Da es keinen Aufzug gab, stiegen sie zu Fuß in den vierten Stock hoch und betraten eine winzige Zwei-Zimmer-Wohnung, die noch spärlicher möbliert war als die in Treviso. Ermanno hatte offenbar in aller Hast gepackt und noch schneller wieder ausgepackt.
»Das Loch hier ist ja noch schlimmer als meines«, sagte Marco und blickte sich um.
Auf dem kleinen Tisch lagen die Unterrichtsmaterialien, die sie tags zuvor benutzt hatten.
»Zum Mittagessen bin ich wieder da«, erklärte Luigi und verschwand.
» Andiamo a studiare «, verkündete Ermanno.
»Ich habe alles schon wieder vergessen.«
»Aber der Unterricht gestern war gut.«
»Können wir nicht einfach in einem Café was trinken gehen? Ich bin nicht in Stimmung für Schulunterricht.«
Aber Ermanno hatte bereits seinen Platz am Tisch eingenommen und blätterte in dem Lehrbuch. Widerstrebend setzte sich Marco auf den Stuhl gegenüber.
Mittag- und Abendessen waren nichts, woran man sich erinnern würde. Sie aßen in Schnellrestaurants, die wie Trattorien eingerichtet waren – die italienische Version des Fastfoodlokals. Luigi war schlecht gelaunt und mahnte mehrmals, zuweilen recht ungehalten, nur Italienisch zu sprechen. Er redete langsam und deutlich und wiederholte alles viermal, bis Marco den Sinn seiner Worte ergründet hatte, dann erst ging er zum nächsten Satz über. Bei solcher Anspannung das Essen zu genießen war vollkommen unmöglich.
Um Mitternacht lag Marco in seinem kalten Zimmer im Bett, die dünne Decke um sich gewickelt, trank Orangensaft, den er beim Zimmerservice bestellt hatte, und lernte von langen Vokabellisten Verben und Adjektive.
Warum war Robert Critz von denselben Leuten umgebracht worden, die nach Joel Backman suchten? Schon die Frage an sich war absurd, und ihm wollte partout keine Antwort einfallen. Er nahm an, dass Critz dabei gewesen war, als sein Straferlass beschlossen worden war. Ex-Präsident Morgan konnte eine solche Entscheidung nicht allein treffen. In einer wichtigeren Rolle aber war Critz nicht vorstellbar. Er hatte in Jahrzehnten bewiesen, dass er allenfalls ein guter Handlanger war, mehr nicht. Nur wenige hatten ihm vertraut.
Wenn das Morden weiterging, musste Marco unbedingt die Verben und Adjektive lernen, die auf seinem Bett verstreut lagen. Ohne Italienisch zu sprechen, würde er nicht überleben und sich nie frei bewegen können. Luigi und Ermanno würden bald nicht mehr da sein, und dann wäre Marco Lazzeri auf sich allein gestellt.
12
I m Morgengrauen floh Marco aus seiner lausigen Kemenate, der »Wohnung«, wie das Zimmer im offiziellen Jargon genannt wurde, und machte einen langen Spaziergang. Die Gehsteige waren fast so feucht wie die kalte Luft. Mithilfe des Stadtplans, den Luigi ihm gegeben hatte und der natürlich italienisch war, suchte er sich seinen Weg in die Altstadt. Als er die Porta San Donato, ein Überbleibsel der alten Stadtmauer, erreicht hatte, ging er am nördlichen Rand des Universitätsviertels auf der Via Irnerio in Richtung Westen. Die Gehsteige waren jahrhundertealt und offenbar über Kilometer mit Bogengängen überdacht.
Im Universitätsviertel begann das Leben auf der Straße erst im Laufe des Vormittags. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, dann ein Fahrrad oder zwei, aber die Fußgänger schliefen alle noch. Luigi hatte ihm erklärt, dass Bolognas jüngste Vergangenheit vom Kommunismus
Weitere Kostenlose Bücher