Die Begnadigung
allgegenwärtigen Touristenhorden. Ein zauberhafter Ort. Er wollte auf jeden Fall noch einmal hin. Viscovitch kramte eigene Erinnerungen hervor. Marco beschrieb die Kirche von San Marco, als hätte er eine ganze Woche dort verbracht.
Wo sollte es als Nächstes hingehen?, erkundigte sich Viscovitch. Wahrscheinlich in den Süden, wo es jetzt schon wärmer war. Vermutlich Sizilien oder die Amalfiküste. Viscovitch war natürlich ganz begeistert von Sizilien und erzählte von seinen Besuchen dort. Nach einer halben Stunde, in der sie sich über die touristischen Höhepunkte Italiens unterhielten, kam Marco zur Sache.
»Da ich so viel unterwegs bin, habe ich keine feste Adresse. Ein Freund aus den Staaten wollte mir ein Päckchen schicken, deshalb habe ich ihm Ihre Adresse in der juristischen Fakultät gegeben. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«
Viscovitch zündete gerade seine Pfeife wieder an. »Es ist schon da. Kam gestern«, sagte er, während schwerer Rauch aus seinem Mund quoll.
Marco stockte für einen Moment das Herz. »Hatte das Päckchen einen Absender?«
»Irgendwo in Virginia.«
»Gut.« Sein Mund war plötzlich trocken. Er trank einen Schluck Wasser und versuchte, seine Aufregung zu verbergen. »Ich hoffe, es hat Ihnen keine Umstände gemacht.«
»Aber nein.«
»Ich komme später vorbei, um es abzuholen.«
»Ich bin von elf bis halb eins in meinem Büro.«
»Gut, danke.« Noch ein Schluck. »Nur so aus Neugierde: Wie groß ist das Päckchen?«
Viscovitch kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife herum und sagte: »Ungefähr so groß wie eine kleine Zigarrenschachtel.«
Am späten Vormittag setzte ein kalter Regen ein. Marco und Ermanno, die gerade durch das Universitätsviertel spazierten, suchten in einer ruhigen, kleinen Bar Zuflucht. Sie beendeten den Unterricht früher als sonst, in erster Linie deshalb, weil es der Schüler so haben wollte. Ermanno war immer froh, wenn er früher gehen konnte.
Da er nicht mit Luigi zum Mittagessen verabredet war, konnte Marco tun und lassen, was er wollte, und das aller Wahrscheinlichkeit nach auch, ohne beobachtet zu werden. Trotzdem war er vorsichtig. Er führte seine kleinen Manöver aus, um etwaige Verfolger abzuschütteln, und kam sich dabei wie immer ziemlich albern vor. Albern hin, albern her, inzwischen war dieses Verhalten bei ihm zur Standardprozedur geworden. Als er wieder auf der Via Zamboni war, ging er hinter einer Gruppe von Studenten her, die ohne erkennbares Ziel über die Straße schlenderten. Am Eingang zur juristischen Fakultät duckte er sich und schlüpfte durch die Tür. Er rannte die Treppe hinauf und klopfte kurze Zeit später an die halb geöffnete Tür von Viscovitchs Büro.
Viscovitch saß vor einer uralten Schreibmaschine und tippte etwas, das wie ein privater Brief aussah. »Da drüben«, sagte er, während er auf einen Stapel Papiere zeigte, der auf einem seit Jahrzehnten nicht mehr aufgeräumten Schreibtisch thronte. »Das braune Ding ganz oben.«
Marco nahm das Päckchen so beiläufig wie möglich an sich. »Nochmals vielen Dank«, sagte er, aber Viscovitch tippte schon wieder und war anscheinend nicht in der Laune für Besuch. Er war eindeutig gestört worden.
»Keine Ursache«, sagte er über die Schulter, während eine dicke Rauchwolke aus seiner Pfeife aufstieg.
»Gibt es hier irgendwo eine Toilette?«, fragte Marco.
»Den Gang runter, auf der linken Seite.«
»Danke. Auf Wiedersehen.«
Die Toilette war mit einem Urinal aus prähistorischen Zeiten und drei durch hölzerne Wände abgetrennte Kabinen ausgestattet. Marco ging in die am weitesten vom Eingang entfernt liegende Kabine und schloss die Tür ab. Dann klappte er den Klodeckel herunter und setzte sich. Vorsichtig öffnete er den Karton und faltete die obenauf liegenden Papierblätter auseinander. Das erste Blatt war einfaches weißes Briefpapier ohne Briefkopf. Als er die Worte »Lieber Marco« sah, hätte er am liebsten geweint.
5. März
Lieber Marco,
ich brauche wohl nicht zu sagen, wie sehr ich mich gefreut habe von dir zu hören. Ich war so froh, als du aus dem Gefängnis entlassen wurdest, und hoffe, dass du in Sicherheit bist. Du weißt, dass ich alles tun werde, um dir zu helfen.
Mit diesem Brief schicke ich dir ein Smartphone, das Neueste vom Neuen, mit allen möglichen Funktionen. Was Mobilfunk und drahtlose Internettechnologie angeht, sind uns die Europäer ein ganzes Stück voraus, ich bin also zuversichtlich, dass das Telefon bei dir
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