Die Begnadigung
beugte sich vor und notierte auf seinem Terminkalender für morgen:
Oberstaatsanwalt Dr. Barthels, Anruf wegen H.
10 Uhr: Cholezystektomie.
11 Uhr: Herniotomie.
11.30 Uhr: Vorlesung Saal 3.
Er legte den Bleistift hin und stützte den Kopf in die rechte Hand.
Was mache ich bloß mit Färber, dachte er.
Vorgestern ist meine Befürwortung zur Professur hinausgegangen …
Marianne Pechl hatte man wieder angezogen. Sie lag auf dem fahrbaren Bett und hielt die Hand Dr. Färbers umklammert.
»Bringen Sie mich wieder zurück zu Hansen«, bettelte sie. »Fritz muß verrückt geworden sein! Wie konnte er mich hierher verfrachten?«
Dr. Färber versuchte ein schwaches Lächeln. »Sie sagen das so, als ob Sie in die Hölle geraten wären.«
»Ich weiß, was Hansen von Professor Runkel zu erwarten hat. Und auch Sie können nicht sein Freund sein … nach allem, was persönlich zwischen Ihnen und Hansen steht. Aber glauben Sie mir, Herr Färber: Es war nicht Hansen, der diese Situation heraufbeschworen hat!«
»Ich weiß.« Färber kniff die Lippen zusammen. Es tat ihm körperlich weh, an Hertas Ausbruch aus der Ordnung erinnert zu werden und ihre Schuld anerkennen zu müssen.
»Warum haben Sie eben Professor Runkel so beleidigt? Sie können doch nicht Hansens Partei ergreifen …«
»Nein. Dazu trennt uns zuviel. Aber ich habe mir mit der Zeit so meine Gedanken machen müssen. Ich sehe jeden Tag unsere Krebskranken … ich operiere sie, ich schicke sie hinüber zu Professor Lücknath, wo sie mit den ausgeklügeltsten, teuersten und raffiniertesten Mitteln der Strahlentechnik nachbehandelt werden. Oft sterben sie dadurch früher, manchmal verbrennen sie, hier und da wird jemand vorübergehend geheilt. Glauben Sie mir, ich sehe die Gefahren unserer heutigen konservativen Krebsbehandlung sehr genau. Ich kenne die Aussagen namhafter Radiologen. Ich operiere und weiß, was ich bestenfalls erreichen kann …«
»Herr Färber! Das aus dem Mund eines Chirurgen? Sie werden mit Runkel schwer zusammenstoßen.« Marianne Pechl schloß die Augen. »Sorgen Sie dafür, daß ich zurück in die ›See-Klinik‹ komme?«
»Ich werde mit dem Chef sprechen. Entführen kann ich Sie nicht.«
Wüllner kam zurück. Er sah schrecklich aus. Bleich, mit wirren Haaren, einem fast irren Blick. Marianne erschrak und hielt den Atem an. Dr. Färber kannte diesen Anblick …
»Soll ich schon den Wagen bestellen?« fragte Färber, um das große Schweigen nicht aufkommen zu lassen.
»Welchen Wagen?«
»Der Sie und Fräulein Pechl zurück nach Plön bringt. Zweifellos wird der Alte ja nichts dagegen haben …«
Wüllner warf den Kopf in den Nacken. »Marianne bleibt hier! Sie kommt nicht mehr zurück zu diesem – Scharlatan!«
»Fritz!« Marianne versuchte sich aufzurichten. »Ich will zurück!«
»Das bestimme ich!« Wüllner holte mit zitternden Fingern eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie an. Wortlos, wie einem unwissenden Kind, nahm Färber ihm die Zigarette von den Lippen weg und zerdrückte sie.
»Im OP, Herr Kollege …«, sagte er dann leise. Wüllner wurde rot und senkte den Kopf. Dann wandte er sich schroff ab und rannte aus dem Saal. Färber sah ihm mit vorgewölbter Unterlippe nach.
»Wohin will er denn nun …«, sagte er langsam.
»Bringen Sie mich zurück zu Hansen!« bettelte Marianne.
»Heute noch?« Färber sah auf die Uhr. »Es ist ja bald Mitternacht. Aber ich spreche sofort mit Runkel. Damit Sie morgen früh nicht zu warten brauchen.«
Marianne nickte. Sie hatte Vertrauen zu Färber.
Auf einmal war die Müdigkeit da. Kaum nahm sie mehr wahr, daß man sie hinausrollte und auf ein Einzelzimmer brachte, daß eine Schwester sie umbettete und ihr überflüssigerweise eine Einschlafinjektion gab … Sie hörte dann noch, wie die Schwester ging und jemand anders ins Zimmer kam. Es konnte Fritz Wüllner sein oder Dr. Färber oder sogar Runkel … es interessierte sie nicht. Wenige Augenblicke später war sie schon eingeschlafen.
Die ganze Nacht über saß Wüllner an Mariannes Bett. Auf einem harten Stuhl, die Hände zwischen die Knie gepreßt, den Blick starr auf ihr bleiches Gesicht gerichtet.
Hansens Opfer, dachte er. Immer und immer wieder. Und von Stunde zu Stunde quälte dieser Gedanke sein Herz mehr …
Das Festessen war vorüber.
Austern mit Sekt, frischer Salm, gefüllter Kapaun mit Artischocken, schwerer Bordeaux, Spargel, Madeira, Käseplatten und Obst, Mokka, Zigarren.
Die Gäste der
Weitere Kostenlose Bücher