Die Begnadigung
den Augen …
Herta Färber war aufgeblieben, bis ihr Mann nach Hause kam. Sie hatte im dunklen Zimmer am Fenster gesessen und hinüber auf den großen Klinikbau gesehen, in dem jetzt die Lichter erloschen. Bis auf die Nachtwachzimmer und einige Labors …
»Du schläfst noch nicht?« fragte Dr. Färber, als er das Licht andrehte. Es gab ihm einen Stich. Sie machte sich Sorgen um Hansen. Trotz ihrer Rückkehr hat sie sich innerlich noch nicht von ihm gelöst.
»Was war dort drüben, Hubert?«
»Seine Assistenzärztin. Eine böse Geschichte … nichts mehr zu machen …«
Herta erhob sich schnell. »Doktor Pechl …«, fragte sie atemlos. Dr. Färber nickte. »Um Himmels willen, wie kommt die denn zu euch?«
»Hansens Oberarzt hat sie selbst gebracht.«
»Wüllner? Ausgeschlossen! Du verschweigst mir etwas.«
»Es ist absurd, Herta, aber es ist die Wahrheit. Hansen ist in Versailles, zu einem Internisten-Kongreß, und Doktor Wüllner hat seine Braut zu uns gebracht …«
»So ein feiger Verräter!« Herta ging erregt im Zimmer auf und ab. »Was habt ihr ihm dafür geboten, Hubert? Gesteh es: Wie teuer war er? O, wie seid ihr gemein!«
Färber zog seine Jacke aus und löste den Schlipsknoten. »Du mißverstehst die Situation, Herta! Er ist freiwillig gekommen. Aus Angst um das Leben seiner Braut. Und Runkel hat ihn völlig zerstört. Er hat ihm gesagt, daß Marianne Pechl vor vier Monaten noch operabel war …«
Entsetzt starrte Herta ihren Mann an. Das Jahr, das sie in der ›See-Klinik‹ erlebt hatte, hatte ihr Einblick genug gegeben, um zu wissen, was diese Feststellung für Hansen bedeutete.
»Und … und ist das wahr, Hubert …?« stotterte sie.
Färber hob die Schultern. »Ich weiß es nicht.«
»Hättest du sie vor vier Monaten operiert?«
»Nein … ich nicht!« rief er. »Aber das besagt ja nicht, daß Runkel es nicht getan hätte! Runkel ist ein chirurgisches Genie! Bei ihm gibt es nichts Unmögliches! Und wenn Runkel sagt: Ich hätte sie operiert, dann …«
»… dann ist das für Hansen wie ein Todesurteil …«, vollendete Herta den angebrochenen Satz.
Färber nickte schwer. »Ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe opponiert … aber er blieb dabei, er hätte das Melanom herausgeschält, wenn Marianne Pechl vor vier Monaten zu ihm gekommen wäre! Wer kann ihm das Gegenteil beweisen? Hansen? Sag selbst – wem wird man mehr glauben: Dem großen Chirurgen oder dem kleinen Außenseiter-Arzt?«
Herta schwieg. Sie stand wieder am Fenster und sah hinüber zur dunklen Klinik.
»Man muß ihn warnen«, sagte sie endlich leise.
Färber trat hinter sie. »Hansen warnen? Wie denn? Willst du ihn anrufen? Er ist in Versailles. Und was kann er tun? Daß sie in Runkels Hände geriet, ist nicht mehr rückgängig zu machen … Wir wollen froh sein, wenn Runkel sie freiwillig wieder fortläßt …«
»Er kann sie doch nicht zurückhalten, wenn sie …«
»Runkel kann viel …«
»Dann hilf du ihr …«
»Kannst du mir sagen, wie …?«
»Du willst nur nicht, Hubert! Sei ehrlich, du willst nicht.«
»Ich habe vorhin versucht, Marianne Pechl zurück zu Hansen schaffen zu lassen. Aber Runkel hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen und telefonierte. Er hat mich überhaupt nicht empfangen. Versteh doch, mit der Pechl hat Runkel endlich den lebenden Beweis in der Hand, daß Hansen ein Scharlatan ist …«
»Und Wüllner? Dieser Feigling?«
»Er ist nicht feig. Er hat Angst um seine Braut. Und diese Angst ist stärker als sein Glaube an Hansen. Auch das kann man schließlich verstehen …«
»Nein! Du weißt nicht, was man in der ›See-Klinik‹ für Patienten tut, die von allen anderen Ärzten bereits aufgegeben sind … Aber Wüllner weiß es …«
Färber schien es nicht klug, dieses Gespräch weiterzuführen. Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Ich bin gespannt, was Hansen tun wird, wenn er zurückkommt.«
»Man sollte doch versuchen, ihn in Paris anzurufen.«
»Das ändert an der Situation erst einmal gar nichts, Herta! Was wir aber auf alle Fälle versuchen sollten, ist, uns da möglichst überhaupt herauszuhalten. Ganz heraus, Herta …«
Er wunderte sich, daß sie nicht antwortete. Als er aufsah, stellte er fest, daß sie bereits ins Schlafzimmer gegangen war.
Auf zwei verschiedenen Straßen fuhren sie aneinander vorbei.
Dr. Hansen benutzte die Bundesstraße, um in die Stadt zu kommen … der Krankenwagen fuhr ein Stück über die Autobahn. So verfehlten sie sich … der Arzt,
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