Die Begnadigung
eine tiefe Röte. »Lassen Sie mich doch mit dieser Idiotie in Ruhe!« schrie er plötzlich. Seine Beherrschung verließ ihn. »Das ist ja Mittelalter! Eines Tages kommt einer und verkündet, daß man den Hintern in Brennesseln halten muß, um eine Darmträgheit zu verhindern! Daß gerade Sie solchen Unsinn weitergeben, Färber …«
»Können wir es uns leisten, an einer Erkenntnis, und wenn sie noch so widersinnig erscheint, vorbeizugehen, Herr Professor …?«
»Gut denn!« Runkel warf die weiteren Röntgenaufnahmen, die man gerade hereinbrachte, ohne sie anzusehen auf den Boden. »Stellen wir uns um!« tobte er. »Fräulein Pechl … essen Sie ab jetzt täglich ein Kilo Rote Rüben. Dazu nehmen Sie Kressensaft, reiben sich die Kopfhaut mit Löwenzahnextrakt ein und trinken abends einen Tee aus Wickensamen. Mehr kann man für Sie doch nicht mehr tun, nachdem dieser Hansen Sie … Sie …«, er suchte nach einem Wort und schrie es plötzlich heraus: »… nachdem er Sie versaut hat! Ich kann nichts mehr tun! Für Sie nichts mehr! Aber für die Sauberkeit in unserem Beruf, für unsere Ehre als Arzt … da kann ich etwas tun! Darauf kann sich Herr Hansen verlassen!«
Er machte kehrt, stieß die Laborantin brüsk zur Seite und rannte aus dem OP. Von seinem Büro aus rief er Professor Bongratzius an. Während er auf die Verbindung wartete, wurde er ruhiger. Aber seine Hände zitterten immer noch, als er sich eine Zigarre ansteckte.
Was mache ich mit Färber, grübelte Runkel. Der Junge ist durchgedreht. Jetzt ist seine Frau wieder da, und das Virus Hansen zerfrißt nun auch ihn. Man muß das Übel an der Wurzel packen … nicht bei Färber, sondern am Ausstreuherd. Hansen muß endlich das Handwerk gelegt werden. Es ging nicht mehr anders, zumal Hansen den Anlaß dazu jetzt selbst frei Haus geliefert hatte: Marianne Pechl – ein operabler Fall, der durch Hansens Operationsverweigerung unheilbar geworden war. Dr. Pechl würde sterben, das stand außer Zweifel … und dieser Tod war die Anklage gegen Hansen. Betrug am Kranken! Fahrlässige Tötung!
»Ja? Was ist denn?«
Die Verbindung mit Professor Bongratzius war da. Runkel setzte sich.
»Wir müssen uns sprechen«, sagte er. »Es ist etwas eingetreten, worauf wir eigentlich alle gewartet haben. Hansen hat sich eine Blöße gegeben, wir haben ihn … Nein … nicht hier am Telefon, lieber Bongratzius. Wir müssen uns sehen. Sobald wie möglich. Machen Sie einen Vorschlag, wenn Sie nicht zu mir kommen wollen …«
Als Runkel aufgelegt hatte, bemerkte er Dr. Wüllner, der an der Tür stand. Er hatte weder ein Anklopfen noch das Eintreten des jungen Arztes wahrgenommen. Runkel legte seine Zigarre auf den Rand des großen Aschenbechers.
»Hat sich Ihr Fräulein Braut beruhigt?« fragte er.
Dr. Wüllner hatte die Hände zu Fäusten geballt. Wie ein schwer angeschlagener Faustkämpfer lehnte er gegen die Tür.
»Ist es wahr, was Sie eben sagten, Herr Professor?«
»Was? Ich habe vieles gesagt …«
»Sie hätten Marianne vor vier Monaten retten können?«
»Ja …«
»Sie hätten ihr eine gute Chance gegeben?«
»Ja …«
»Und allein Doktor Hansens Zögern ist schuld, daß Marianne jetzt verloren ist?«
»Ja …«
»Und Sie wären bereit, Herr Professor, diese Ansicht auch – außerhalb Ihrer Klinik zu vertreten?«
Runkel nahm seine Zigarre und tat einen tiefen Zug. »Junger Mann«, sagte er ernst. »Ich bin fast vierzig Jahre lang Arzt … zwanzig Jahre lang habe ich meine Professur, seit zehn Jahren bin ich Ordinarius. Sie dürfen mir ein objektives Urteil und ein wenig diagnostische Kenntnis zutrauen …«
»Danke, Herr Professor!« Dr. Wüllner senkte den Kopf. Durch seinen Körper lief ein Zucken. »Dann kann ich in Doktor Hansen den Mörder meiner Braut sehen …«
»Aber, aber, Herr Kollege! Wir Ärzte sind auch nur Menschen. Es gibt in unserem Beruf kleine und große Irrtümer. Verzeihliche und unverzeihliche. Bei Ihrer Braut ist es ein großer, unverzeihlicher Irrtum … aber eben doch nur ein Irrtum!«
Im nächsten Augenblick hatte Wüllner das Zimmer verlassen …
Professor Runkel sah nachdenklich dem Qualm seiner Zigarre nach. In kleinen Kringeln stieg er gegen die getäfelte Decke.
Der Mörder meiner Braut, klang es in ihm nach. Es war ein unheimlicher Satz … auf jeden Fall wert, geklärt zu werden …
Man sollte Oberstaatsanwalt Dr. Barthels anrufen. Als Bundesbruder und Alter Herr würde er vielleicht einen Rat wissen.
Runkel
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