Die Begnadigung
war nicht zu sagen. Metastasen im Rückenmark, Metastasen in der Leber, kleine, eben ausgestreute und sich festsetzende Metastasen an der Thoraxwand. Und im Gehirn ein kleiner dunkler Fleck, fast kreisrund …
»Wissen Sie nun mehr als Doktor Hansen?« rief Marianne vom OP-Tisch her.
Professor Runkel drehte sich zu Marianne. Er hielt die Platten noch immer gegen das Licht.
»Sie wissen um Ihren Zustand, Frau Kollegin«, sagte er. »Kollege Wüllner sagte es mir. Ich kann nur bestätigen, was auch Herr Wüllner sagte: Es ist zu spät!«
»Ich weiß!« schrie Marianne. »Und ich will endlich hier 'raus …«
»Die große Entdeckung, die wir hier aber machen konnten, ist die deprimierende Wahrheit, daß Ihr Zustand vor etwa sechs Monaten durchaus nicht hoffnungslos war …«
»Da wußte ja noch keiner …«
»Eben! Eben! Man ist in einer Klinik, die ein angeblich unfehlbarer Krebsarzt leitet, der mehr kann als alle seine Kollegen, und die eigenen Ärzte erkranken an Krebs und werden erst erkannt, wenn's zu spät ist! Trotz vierteljährlicher Untersuchung des Personals, wie mir Kollege Wüllner sagte. Das macht – gelinde gesagt – nachdenklich! Irgendwie stimmt da doch etwas nicht …« Runkel ließ die Platten sinken. Er gab sie an Färber weiter. »Vor vier Monaten wurde in Oberstdorf festgestellt, daß Sie ein Melanom haben. Und dann hat Ihnen Doktor Hansen von einer Operation abgeraten und Sie nur intern, nach seiner Methode behandelt.«
»Jeder sah, daß eine Operation sinnlos war!«
»Hm … Besitzt Herr Hansen eine so ausgedehnte Erfahrung, um dies ohne Hinzuziehung von Kapazitäten endgültig diagnostizieren zu können? Vor vier Monaten waren noch keine Metastasen vorhanden …«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Durch die Größe und den Sitz der jetzt vorhandenen Tochtergeschwülste. Man muß eben ein wenig Erfahrung haben, wenn man den Krebs behandelt …« Runkels Stimme troff vor Genugtuung. »Allein nur aus Theorien und Schriften von Außenseitern kann man keine Krebstherapie aufbauen. Hinter der Schulmedizin stehen die Erfahrungen von zwei Jahrtausenden … nicht die Traum-Erkenntnisse einiger Schäfer oder Wassertreter …«
»Ich verbitte mir das!« rief Marianne. »Ich will auf der Stelle fort … Ich glaube an Doktor Hansen!«
»Glaube versetzt Berge. Das weiß man! Aber Glaube allein hat noch keine Geschwulst weggezaubert.«
»Was wissen Sie denn von Psychologie?« rief Marianne. Runkel lächelte. Er war in einer so gehobenen Stimmung, daß nichts auf der Welt ihn in diesen Minuten beleidigen konnte. Nicht einmal Dr. Hansen selbst, wenn er statt Wüllner neben Marianne stünde.
»Immerhin soviel, daß die hysterische Anhimmelung eines Mannes für Frauen oft tödlich sein kann! Vor allem, wenn der kleine Gott auf Erden ein Arzt ist! Sie sind ein Beispiel dafür, Kollegin! Wären Sie vor vier Monaten zu mir gekommen – ich hätte Sie operiert!«
»Das … das ist doch nicht möglich …«, stotterte Wüllner.
»Aber doch, Herr Wüllner. Wir hätten das operiert. Und wo kein Primärtumor mehr ist, hört auch die Metastasierung auf!«
»Sollte man annehmen …« Es war das erste Wort, das Färber sagte. Runkel fuhr herum, als habe ihn sein I. Oberarzt in den Rücken gestochen. Seine Augen blitzten wild.
»Was heißt das, Färber?«
»Die Krebskrankheit ist nicht allein der Tumor, den wir wegschneiden können … oder nicht mehr wegschneiden können … Der Krebs hat in all seinen Erscheinungsformen eine Grundlage … eine interne Grundlage. Er ist eine chronische Erkrankung …«
Runkel schien es die Sprache zu verschlagen. Er sah seinen Lieblingsschüler nur ehrlich verblüfft an. Dann wandte er sich wieder Marianne Pechl zu.
»Sie haben die Operation versäumt. Vor vier Monaten war noch eine Chance da … eine kleine, aber mit diesem Minimum an Chance baut ja auch Ihr geliebter Hansen seine Klinik auf. Aber wenn ich höre, daß Rote Rüben ein Skalpell ersetzen sollen … verzeihen Sie, das ist einfach lächerlich …«
Dr. Färber atmete tief ein, er nahm allen Mut zusammen. »Rote Rüben«, sagte er laut. »Die Ärzte Doktor Ferenczi und Doktor Schmidt haben gerade mit Roten Rüben Versuche bei Krebskranken gemacht. Ein Kilo Roter Rüben, monatelang an zweiundzwanzig Krebskranken mit verschiedenen Krebsformen verabreicht, riefen bei einundzwanzig Kranken deutliche Besserungen hervor, sie nahmen an Gewicht zu, die Geschwulst verkleinerte sich …«
Über Runkels Gesicht zog
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