Die Begnadigung
zu verbergen? Sie tun gerade, meine Herren, als sei unsere Therapie so geheimnisumwittert, daß keiner sie kennen darf! Jeder sollte sie kennen – so wollen wir lieber sagen … Warum also diese Aufregung? Kollege Wüllner hat einen Ausflug zur Schulmedizin gemacht … wir werden hören, was er erreicht hat.«
»Das möchte ich Ihnen nicht hier sagen!« erklärte Wüllner.
»Warum nicht? Wir haben es seit fast zwei Jahren so gehalten, daß alles, was die Klinik und die Patienten angeht, zwischen uns frei und ohne Scheu besprochen wird!«
Wüllner warf den Kopf in den Nacken. Seine Lippen zitterten, als er seinen ganzen Schmerz in einem einzigen Satz hinausschrie:
»Es ist zu spät!«
»Das wissen wir!« Hansen gab seine Aktentasche einer Sekretärin, die er für Herta Färber neu eingestellt hatte. »Wenn das alles ist, was Professor Runkel Ihnen sagen konnte …«
»Vor einem halben Jahr war es nicht zu spät! Das hat er gesagt.«
»Ich habe nichts anderes erwartet.«
»Ach!« Wüllners Kopf fuhr zu Hansen herum. »Es stimmt also, daß Sie Marianne bewußt …«
»Es stimmt, daß man nach einem halben Jahr gut sagen kann: Ich hätte operiert … wenn man den Zustand nicht kennt, der damals vorlag. Heute, wo wahrhaftig nichts mehr zu machen ist, ist es leicht, mit Heldenpathos zu behaupten: Ja, ich, vor sechs Monaten, da hätte ich! – Was glauben Sie, was Runkel gesagt hätte, wenn Sie bereits vor einem halben Jahr zu ihm gekommen wären?«
»Er hätte operiert!« schrie Wüllner. »Wie ich es wollte!«
»Vielleicht hätte er das! Aber dann lebte Marianne jetzt schon nicht mehr. Sie wissen doch, daß diese Operation das umstrittenste Kapitel ist, das man in der Chirurgie kennt! Trotz Elektrochirurgie! Ich habe es Ihnen damals genau erklärt …«
»Sie haben mir viel erklärt. Uns allen haben Sie viel erklärt. Viel zuviel! Sand haben Sie uns in die Augen gestreut! Während draußen die Technik neue Triumphe feiert, während in den OPs der großen Häuser der Krebs ausgerottet wird, während riesige Strahleninstitute gebaut werden, in denen man die Krebsgewebe und -zellen verödet und zerstört, sitzen Sie hier wie ein Einsiedler und wollen den Krebs mit Rohkostplatten und Coligaben, mit zweifelhaften Medikamenten und seelischer Auflockerung, mit Milchsäure und Edelschimmel vernichten! Draußen marschiert das einundzwanzigste Jahrhundert bereits jetzt heran … und Sie fallen zurück ins schaurigste Mittelalter! Das ist meine Anklage …«
»'raus!« sagte Dr. Adenberg. »Sofort 'raus …!«
Aus seiner Pförtnerloge kam Wottke gerannt. Seine massige, gedrungene Gestalt näherte sich furchterregend. Wüllner wich an die Hallenwand zurück. Sein Gesicht war blaß und verzerrt.
Hansen hob die Schultern. »Was soll ich Ihnen darauf antworten? Sie haben fast zwei Jahre bei mir gearbeitet. Sie haben gesehen, daß unsere Therapie, und wenn sie noch so sehr von allen anderen abweicht, doch Erfolge hatte! Wir haben bis jetzt dreiundzwanzig echte Erfolge. Rückbildungen von Primärtumoren, Verödungen von Metastasen, Abstoßungen von Rezidiven.«
»Und die Toten? Ich kenne die Zahl genau!«
»Einhundertneununddreißig Tote! Das klingt gewaltig!« Hansen steckte die Hände in die Manteltaschen. »Seit zwei Jahren liegen bei uns fünfundsiebzig Unheilbare! Fünfundsiebzig Schwerstkranke! Sterbende! Fünfundsiebzig von allen Ärzten Aufgegebene! Es sind Menschen, die alle – ich sage alle – in einer normalen Klinik gestorben wären! Ohne Ausnahme! Und keiner hätte es für verwunderlich gehalten, daß sie sterben. Sie waren ja inkurabel! Von diesen bereits medizinisch Toten haben wir dreiundzwanzig dem Leben zurückgegeben! Dreiundzwanzig Menschen, die weiterleben konnten und überall sonst gestorben wären wie die anderen! Doch davon spricht niemand! Man sagt nur: Seht – bei dem Hansen sind bereits einhundertneununddreißig Menschen gestorben! Trotz seiner Therapie! Unerhört! Man sollte lieber sagen: Es ist unerhört, daß trotz aller Propaganda der Schulmedizin jährlich zweihunderttausend Menschen an Krebs sterben! Es sollte unerhört sein, daß in den USA in einem einzigen Jahr fünfhundertzehntausend neue Krebsfälle diagnostiziert wurden und sich gegenwärtig siebenhundertfünfundachtzigtausend Krebskranke in Behandlung befinden! Und es sollte unerhört sein, daß von diesen armen Kranken nur Eins Komma Fünf Prozent geheilt werden können … das ist die Krebsheilquote der Schulmedizin, wie sie
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