Die Begnadigung
weg. Herta Färber umklammerte den Hörer.
»Wer … wer ist da?« fragte sie, obwohl sie wußte, wem diese dunkle Stimme gehörte. Eine eiserne Klammer legte sich um ihr Herz und schnürte es ein.
»Kann ich dich sehen? Allein? Nur ganz kurz?« Die Stimme wurde klarer, als habe sie die erste Scheu abgeschüttelt. Herta Färber mußte sich setzen, so zitterten ihre Knie plötzlich.
»Wo … wo bist du denn?« fragte sie stockend. Es war ihr, als sei es gar nicht sie, die da sprach.
»In Plön. Ich rufe von einer Tankstelle aus an. Wir könnten uns irgendwo außerhalb treffen. Vielleicht am See, zwischen Plön und Malente.« Und dann wurde die dunkle Stimme bittend wie die eines kranken Jungen. »Bitte … komm, Herta.«
»Heute noch?«
»Am besten gleich, wenn das einzurichten ginge. Ich warte auf dich … du brauchst nur die Straße nach Malente hinabzufahren …«
»Aber es ist doch sinnlos, Hubert.«
»Nur für ein paar Minuten, Herta. Laß mich nicht vergeblich bitten. Ich verspreche dir …«
Herta Färber sah auf die Tür. Nebenan saß Hansen an seinem Schreibtisch und wartete auf die Unterschriften. Er würde die Briefe durchlesen, sein dickes ›Hansen‹ daruntersetzen, man würde dann zusammen essen, das Fernsehprogramm ansehen, belanglose Dinge erörtern und dann zu Bett gehen. Immer um die gleiche Stunde, aber jeder für sich.
Ein Jahr lang war das schon so. Und es würde nie anders werden, nur noch konsequenter, noch kälter, noch entehrender. Der Schatten Karins war nicht wegzuwischen.
»Ich komme«, sagte Herta Färber laut. Dann legte sie den Hörer auf und drückte die nassen Hände gegen die Schläfen.
»Ich komme …«, wiederholte sie laut zu sich selbst. »Und er … er soll es wissen …«
Rasch ging sie in ihr Zimmer, zog sich um, schminkte sich und holte dann die Briefe aus dem Sekretariat, um sie Hansen hinüberzutragen.
Hansen stand wieder vor dem Lichtkasten und starrte auf die Kopfaufnahme Marianne Pechls. Er drehte sich kurz um, nickte und sagte:
»Leg die Briefe bitte auf den Tisch.« Daß sie ausgehfertig angezogen war, nahm er überhaupt nicht zur Notiz. Es ärgerte sie, weil es nicht in ihr Konzept paßte.
»Übrigens …«, sagte sie.
Auch mit diesem Anlauf hatte sie keinen Erfolg. Er bemerkte lediglich: »Du wirst heute allein essen müssen … ich will noch arbeiten.«
»Das trifft sich gut, ich wollte sowieso auswärts essen …«
Aber selbst diese überlaute Erklärung bewog ihn nicht, seine Arbeit einen Augenblick zu unterbrechen und sich mit ihr zu beschäftigen. Mit einem Fettstift zeichnete er kleine Kreise auf der Röntgenplatte. Herta Färbers hochmütiges, schmales, kühles Gesicht versteinerte.
»Ich gehe …«
»Viel Vergnügen. Wenn du nach Plön fährst, kannst du, falls nicht schon Ladenschluß ist, drei Liter reinen Alkohol mitbringen. Er geht uns aus im Labor …«
Darauf antwortete sie nicht mehr. Ein Dreck bin ich für ihn, dachte Herta Färber. Wut und Enttäuschung und ein bohrendes Gefühl von Rache stiegen in ihr hoch. Sie schlug die Türe hinter sich zu und ging schnell durch den langen Flur, durch die Halle hinaus zur Garage.
Dr. Marianne Pechl stand vor dem Lichtkasten und der kleinen Röntgenplatte.
Da war der pfenniggroße Fleck. Er war mit Kreisen umrandet, wie ein rundgerahmtes Bild. So sah der Tod aus, ihr Tod, und sie wußte es noch nicht, was sie vor sich hatte.
Dr. Hansen stand hinter Marianne Pechl und hatte seine Hände auf ihre Schultern gelegt. Er roch ihr Haar. Wie Jasmin duftete es. Er spürte ihre herrliche Jugend … Es war unbegreiflich, daß dieser pfenniggroße Fleck auf dem Röntgenbild das alles zerstören konnte.
Hansen zog Marianne an sich. Es war, als wolle er sie vor dem grausamen, mitleidlosen Feind schützen. Marianne zeigte mit dem Finger auf den kleinen dunklen Fleck.
»Ein Tumor?« Sie drehte den Kopf etwas. Ihre großen blauen Augen begegneten dem leidvollen Blick Hansens. »Ein neuer Patient?«
»Ja …«, sagte Hansen heiser. »Aber es ist kein Tumor im üblichen Sinne. Kein gutartiger. Es ist das Gemeinste, was es an malignem Tumor geben kann: Ein Melanom der Hirnhaut.«
»Armer Mensch …«, sagte Marianne Pechl leise. »Weiß er es schon?«
»Nein …« Hansen ließ sie los und wandte sich ab.
»Wollen Sie es ihm sagen?«
»Ich werde es müssen …«
»Ist es ein Mann oder eine Frau …?«
»Ein Mädchen! Ein tapferes, ein schönes Mädchen. Ein verliebtes Mädchen.«
»Schrecklich!«
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