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Die Behandlung: Roman (German Edition)

Die Behandlung: Roman (German Edition)

Titel: Die Behandlung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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ihn nicht zurückgehalten.
    »Man lässt Sie doch ohnehin nicht zu ihm, solange er an dieser Maschine hängt, Jack.« Auch wenn sie Cafferys ungestüme Entschlossenheit zu schätzen wusste, verfügte sie über ausreichend Erfahrungen mit dem Krankenhauspersonal. Und sie wusste, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, etwas erzwingen zu wollen. »Die Ärzte haben uns versprochen, ihm vorher Blut zu entnehmen, falls eine Transfusion nötig sein sollte. Dieser Oberarzt hat uns sogar sein Wort gegeben, und mehr können wir im Augenblick leider nicht machen.«
    Inzwischen war es 1 Uhr nachts, und die Beamten der Abteilung wussten genau, was sie am nächsten Tag zu tun hatten. Auch der Brockwell Park war völlig abgeriegelt. Deshalb fuhren Souness und die anderen Beamten erst mal nach Hause, um vor Sonnenaufgang noch ein oder zwei Stunden zu schlafen. Caffery war bereits vierundzwanzig Stunden auf den Beinen, doch seine Nervosität ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Er trat an seinen Schreibtisch, goss sich einen Schluck Bell’s in ein Glas und trommelte mit den Fingern gegen das Gehäuse des Telefons. Schließlich hielt er es einfach nicht mehr aus, schnappte sich den Hörer und wählte die Nummer der Intensivstation.
    Der zuständige Oberarzt, ein gewisser Dr. Friendship, reagierte ungehalten. »Nein heißt nein, und damit basta«, sagte er und hängte ein.
    Caffery starrte den stummen Hörer an. Natürlich konnte er noch mal anrufen und zwanzig Minuten auf das Krankenhauspersonal einreden, aber er wusste genau, dass man ihn nur abwimmeln würde. Er seufzte, legte den Hörer auf und goss sich einen weiteren Whisky ein. Dann legte er die Füße auf den Schreibtisch, saß mit gelockerter Krawatte da und starrte durch das Fenster auf die Hochhäuser von Croydon, die glitzernd in den nächtlichen Himmel aufragten.
    Gut möglich, dass er auf diesen Fall fast ein halbes Leben gewartet hatte. Ja, im Grunde genommen wusste er bereits, dass er es mit seinem wichtigsten Fall zu tun hatte. Der Grund dafür war das Verbrechen, dem sein Bruder vor mehr als einem Vierteljahrhundert zum Opfer gefallen war.
    Ein Vierteljahrhundert? Ist das wirklich schon so lange her, Ewan? Wahrscheinlich ist es sogar schon zu spät, um noch intakte DNS zu finden. Ja, wie lange dauert es eigentlich, bis eine Leiche eins wird mit dem Erdreich, sich vollkommen in ihre Bestandteile auflöst?
    Er wusste, dass diese neue Geschichte ihn psychisch völlig überforderte. Wann immer er ein paar Minuten allein war, spürte er nur zu deutlich: Statt zu verblassen, nahmen seine Probleme von Tag zu Tag sogar noch zu – vermehrten sich geradezu epidemisch.
    Ewan war neun Jahre alt gewesen. Genauso alt wie der kleine Rory. Sie hatten damals gestritten – zwei Brüder in einem Baumhaus, die sich wegen irgendeiner Lapalie in die Haare geraten waren. Dann war Ewan, der Ältere von beiden, von dem Baum heruntergeklettert und schmollend Richtung Bahndamm gegangen. Er hatte an jenem Tag braune Clark’s-Sandalen, eine kurze braune Hose und ein senfgelbes T-Shirt getragen. (Caffery wusste das ganz genau. Diese Angaben hatten sich seinem Gedächtnis eingebrannt, weil er es damals mit eigenen Augen gesehen und weil er es später x-fach auf Polizeiplakaten gelesen hatte.) Niemand hatte Ewan je wieder gesehen.
    Jack hatte damals zugeschaut, wie die Polizei die Böschungen am Bahndamm abgesucht hatte, und in jenem Augenblick war in ihm der Entschluss gereift, später selbst einmal Polizist zu werden. Eines Tages finde ich dich, Ewan, eines Tages … Deshalb wohnte er bis heute in demselben Reihenhaus im Süden Londons wie in seiner Kindheit und starrte beinahe täglich über den Garten hinter dem Haus und den Bahndamm hinweg auf das Haus, in dem bis heute jener alternde Pädophile lebte, den alle – auch die Polizei – mit Ewans Verschwinden in Verbindung gebracht hatten: Ivan Penderecki. Zwar hatte die Polizei Pendereckis Haus damals durchsucht, dort allerdings keine Spur von Ewan entdeckt. Und seither hatten sich Penderecki und Caffery wie ein verfeindetes Ehepaar fortwährend stumm beobachtet. Jede Frau, mit der Caffery zusammen gewesen war, hatte versucht, ihn von dort fortzulocken, die Kette zu sprengen, die ihn an den groß gewachsenen Polen schmiedete. Allerdings hatte Caffery diese Möglichkeit nicht einmal für eine Sekunde in Betracht gezogen. Dieser Penderecki war seine fixe Idee. Nicht einmal Rebecca hatte so viel Einfluss auf ihn wie der alte Widerling

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