Die Behandlung: Roman (German Edition)
zurück – wie ein Kleinkind, das verzweifelt versucht, aus seinem Stuhl zu steigen. Und als der Kleine dann rund einen Monat später aufstand und zu gehen versuchte, wies sein rechter Fuß wie ein Pferdehuf nach unten, doch solche Kleinigkeiten waren für Carl kein Problem. Unversehens eröffneten sich ihm ganz neue Perspektiven.
Natürlich blieb Tracey nicht verborgen, dass Carl plötzlich wieder Spaß am Leben hatte. Gott sei Dank. Er wurde von Tag zu Tag freundlicher, und selbst seine ständigen Wutanfälle hörten langsam auf. Eines Nachts hörte sie im Bad ein brünstiges Stöhnen, das durchs ganze Haus hallte, und das rhythmische Klatschen eines Körpers, der gegen die gusseiserne Badewanne prallte. Als sie auf Zehenspitzen nach oben ging, sah sie gerade noch, wie Carl mit grimmiger Miene aus dem Badezimmer trat. Er war schweißgebadet und mied ihren Blick, doch sie wusste instinktiv, dass der Junge jetzt für Carl eine ganz besondere Bedeutung hatte.
Und sie hatte sich nicht getäuscht. Wenn er am Wochenende einen seiner Saufexzesse zelebrierte, kam Carl im Laufe des Abends irgendwann in seinem T-Shirt und seiner Latzhose – eine Kippe zwischen den Zähnen – die Treppe herunter und erschien im Wohnzimmer, wo Tracey und der Junge fernsahen. Er stand nur wortlos da und machte das Licht an, damit die beiden aufblickten. Dann wartete er einfach so lange an der Tür, bis der Junge schließlich aufstand und aus dem Zimmer hinkte. Sobald der Junge das Zimmer verlassen hatte, stellte Tracey die Glotze lauter, rauchte noch mehr als sonst und versuchte zu verdrängen, was oben gerade passierte. Hinterher verfiel der Junge tagelang in völlige Apathie und saß mit einer Decke über dem Kopf wimmernd in der Ecke.
»Am besten, du tust einfach so, als ob er unser Bruder ist«, sagte Carl. »Sag einfach, dass er einen Geburtsfehler hat, okay? Und einen Namen braucht er natürlich auch – sagen wir Steven.« Und so hielten sie es dann auch: Steven war fortan Carls und Traceys geistig behinderter Bruder. Die Borstal Boys machten sich ein Vergnügen daraus, »Steven« regelmäßig zu vermöbeln: Tracey entdeckte ihn immer wieder nebenan im Schuppen, wo er wimmernd am Boden lag und mit dem Kopf wackelte. Nach ein paar Jahren hatte auch Carl genug von dem Jungen. Steven hatte heimlich zu rauchen angefangen und schnitt Fotos von Debbie Harry und Jilly Johnson aus den News of the World aus und klebte sie an die Wand. Eines Morgens war Carl aufgewacht und hatte entdeckt, dass Steven einen Stapel runderneuerter Reifen durch eine achtlos weggeworfene Zigarette in Brand gesetzt hatte. Zur Strafe hatte er dem Jungen die Nase zertrümmert. Inzwischen hatte Steven kaum mehr etwas von einem Kind an sich, er war fast ausgewachsen. Carl rannte durch das Haus und hatte alle fünf Minuten einen Tobsuchtsanfall und brüllte jeden an, der ihm gerade in den Weg kam. Natürlich war das meistens Steven, aber auch Tracey oder die Borstal Boys, oder aber er schimpfte über die alten Drecksautos in der Garage. Steven war inzwischen kein Kind mehr, und Carl hatte jegliches Interesse an ihm verloren, brachte es allerdings nicht über sich, sich seiner zu entledigen. Und so machte er es sich zur Gewohnheit, den Jungen abends mit einem leeren Eimer in seinem Zimmer einzuschließen. »Ist ja nur zu deinem eigenen Besten – kleiner Scheißer.«
Tracey war über diese neue Entwicklung ungemein erfreut. Sah ganz danach aus, als ob Steven seine Daseinsberechtigung verwirkt hatte. Doch dann entdeckte Carl eines Tages zufällig, dass Steven die gleiche Arbeit verrichten konnte wie die Borstal-Boys. Er wurde Zeuge, wie die Burschen es sich mit ihren Cidre-Flaschen bequem machten und dem Jungen dabei zuschauten, wie der einen ganzen Stapel Autofenster mit eingeritzten Fabrikationsnummern an einer Seilwinde in das Geäst eines Baumes hinaufhievte und von dort zu Boden stürzen ließ. Steven verstand sich auch darauf, die Blechschildchen mit den Chassis-Nummern zu entfernen. Und so machte er sich in der Garage allmählich unentbehrlich. Einen richtigen Satz konnte er zwar nicht sprechen, dafür schweißte er innerhalb von Sekunden ein Blechschild über eine Chassis-Nummer. Und das brachte Carl auf eine Idee. Wenn Steven die Arbeit der Jungs übernehmen konnte, »wieso sollte ich dann meinen schönen Gin und meine Kippen zum Fenster rauswerfen?« Und so dauerte es nicht lange, bis der Junge den ganzen Tag in der Werkstatt schuftete – schraubte, hämmerte
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