Die Behandlung: Roman (German Edition)
Pfiff aus. »Mein Gott, was für eine grandiose Erscheinung.«
Er lächelte.
»Hast du was Besonderes vor?«
»Wieso? Ich geh bloß ins Büro – wie immer.« Er strich über die Krawatte und schenkte sich einen Kaffee ein. Sie sah ausgeruht aus. In Anbetracht des Zustands, in dem sie sich noch vor wenigen Stunden befunden hatte, schaute sie sogar verdammt gut aus. Als er so mit seinem Kaffee am Tisch saß und beobachtete, wie sie in der Küche herumtapste und den Kühlschrank öffnete, sah er plötzlich wieder optimistisch in die Zukunft. Alles erschien so einfach, doch dann fiel ihm ein: Vielleicht ist es ja nur das Heroin. Sagt man nicht, dass Leute, die Heroin nehmen, in der Anfangsphase aufblühen … ? Und dann dachte er daran, was er sich für den vor ihm liegenden Tag vorgenommen hatte – dass er die ganze Sache eigentlich abblasen und sich für das revanchieren müsste, was Rebecca getan hatte. Plötzlich fühlte er sich so elend, das ihm der Kopf brummte. Er kippte seinen Kaffee hinunter, stand auf und küsste sie flüchtig auf die Stirn. »Ich geh jetzt ins Büro.«
Als er weg war, trat Rebecca in den Garten hinaus und legte sich in das Gras. Ein herrlicher Tag – über ihr ein strahlend blauer Himmel mit einigen wenigen Schäfchenwolken. Sie lag schweigend da und versuchte, sich Klarheit über ihre Gefühle zu verschaffen. Ja, sie hatte es getan. Ja, sie hatte den Schritt gewagt, einen Riesenschritt. Sie hatte einen der wichtigsten Londoner Kunstkritiker brüskiert, und jetzt überlegte sie, ob sie versuchen sollte, die Sache irgendwie wieder einzurenken. Doch eigentlich fand sie an ihrem Verhalten nichts auszusetzen. Sie versuchte ernsthaft, über ihren Auftritt vom vergangenen Abend nachzudenken, konnte sich aber nicht konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab, drifteten in dem flirrenden Licht ziellos dahin. Vielleicht lag es ja an dem Heroin – möglich, dass Junkies die Kotzerei am Anfang einfach in Kauf nehmen, weil man danach von dieser unglaublichen Ruhe erfüllt ist . Aber eigentlich hätte die Wirkung doch schon nachlassen müssen. Sie hatte das Gefühl, dass etwas sehr Wichtiges geschehen war, dass sie den Blick endlich in die richtige Richtung gewandt und ebenso viel Grund zur Angst wie zur Freude hatte. Und dann dachte sie an Jack, daran, wie er sie auf den Kopf geküsst hatte – Jack, ich bin ja so froh, dass du nicht sauer reagiert und mich rausgeschmissen hast -, und sie wusste plötzlich, dass alles okay war, dass sie ganz ruhig sein konnte. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und stellte verwundert fest, dass sie lächelte.
Das Gehirn ist eine puddingartige Masse, die wie auf einer Säule sitzt und in einer molkeartigen Flüssigkeit schwimmt. So ist es vor leichteren Erschütterungen geschützt. Diese Masse nimmt Schaden, wenn sie zusammengepresst wird oder auch nur kurzfristig unter Sauerstoffmangel leidet. Aber natürlich gibt es auch noch andere Möglichkeiten, dieses hochempfindliche und überaus komplexe Organ zu schädigen. So kann es geschehen, dass das Gehirn durch eine Blutung oder einen Tumor gegen die Schädeldecke gepresst oder nach einem Schlaganfall oder Trauma nur unzureichend durchblutet wird. Es kann aber auch passieren, dass die graue Masse durch Stöße oder Schläge im Schädel kräftig hin und her geschüttelt wird, dass Teile des Gewebes reißen. Außerdem kann das Gewebe durch Schwellungen und Blutungen so stark nach unten gedrückt werden, dass es durch das Loch an der Basis des Schädels auszutreten droht, oder es kann so kräftig erschüttert werden, dass es völlig unkontrolliert gegen die Schädeldecke prallt. Wenn man zum Beispiel ein Kleinkind rückwärts auf einen Betonfußboden fallen lässt, wird sein Gehirn durch die Saugwirkung und die Kräfte der Beschleunigung und der Trägheit zunächst nach hinten und im Augenblick des Aufpralls wieder nach vorne geschleudert und kann sich an den kantigen Vorsprüngen des knöchernen Schädels verletzen. Man spricht in diesem Zusammenhang von einem »Contre coup«-Trauma. Und genau diese Art von Verletzung hatte Ivan Penderecki einem kleinen Jungen zugefügt, den er vor vielen Jahren in einem feuchten Wellblechschuppen in den Romney-Marschen gefangen gehalten hatte.
Durch einen merkwürdigen Zufall war Carl Lamb Zeuge des Vorfalls geworden. Passiert war das Verbrechen in einer kalten Novembernacht in den Siebzigerjahren. Lamb hatte am Fenster der Hütte gestanden und eine Zigarette
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