Die Behandlung: Roman (German Edition)
Seite gedreht hatte. Der Knabe war weiß und sehr dünn. An seiner Körperhaltung war zu erkennen, dass seine Hände gefesselt waren – ja, dass er an den weißen Heizkörper gefesselt war, an den er sich lehnte. Auf der rechten Seite des Bildes war ein Ausschnitt einer Garderobe zu sehen, an der seitlich ein Plakat befestigt war. Einer der Ermittler, die sich in den Achtzigerjahren mit dem Fall beschäftigt hatten, hatte fast am Rand einer Kopie mit dem Rotstift eine Stelle auf dem Boden eingekreist und »Fuß?« daneben geschrieben. Caffery inspizierte die Stelle genau. Möglich, dass es sich bei dem Objekt, das dort zu sehen war, um einen Fuß handelte – nackt und mit fünf kleinen fleischfarbenen Zapfen. Vielleicht Zehen? Eher dünn und lang – vielleicht die Zehen einer Frau? Doch nein: Auf dem zweiten Foto war deutlich zu erkennen, dass es sich nicht um eine Frau handelte.
Auf diesem – aus einer etwas anderen Perspektive aufgenommenen – zweiten Foto war nämlich ein gefesselter Mann zu sehen. Er hockte mit angezogenen Beinen da, hatte den Kopf zur Seite gedreht und das Gesicht abgewandt. Seine Arme waren über der Brust gekreuzt und mit Betttüchern gefesselt, sodass er fast wie eine Mumie erschien. Hinter ihm war jetzt deutlich die Garderobe zu erkennen. Auf dem Plakat war eine Szene aus Teenage Mutant Ninja Turtles abgebildet. Dahinter sah man das vom Bildrand zur Hälfte abgeschnittene, kleine blonde Kind. Über dem Kopf des Jungen war auf dem Foto noch der untere Rand eines Fensters zu sehen. Und das war auch schon alles.
Mein Gott, 1989 – ist ja schon’ne halbe Ewigkeit her. Caffery kramte in seiner Erinnerung. Damals hatte er gerade seine erste eigene Bude gehabt, war mit dem Zug nach Luton gefahren. Ja, mit wem war er damals zusammen gewesen? Er zermarterte sein Gehirn: Melissa, vielleicht? Oder Emma? Ja, diese Emma hatte wie Meg Tilly ausgesehen, und er hatte sie vor allem wegen ihrer Miniröcke bewundert und wegen ihrer merkwürdigen Kleider. 1989 waren außerdem fast siebzig Leute bei einem Erdbeben in San Francisco umgekommen, in Afghanistan war der Krieg zu Ende gewesen und in Berlin die Mauer gefallen. Und dann war dieser ominöse Champ Keoduangdy noch wegen eines dicken Elektrokabels, das ihm jemand von hinten in den Leib gerammt hatte, auf der Intensivstation gelandet, und irgendwer hatte diese Fotos hier in der Half Moon Lane in einen Mülleimer geworfen.
Hatte sich da vielleicht wirklich jemand bloß einen ziemlich abgeschmackten Scherz erlaubt? Doch falls die Bilder der Wahrheit entsprachen, wieso hatte sich dann niemand gemeldet? Bei einer solchen Geschichte hätte doch innerhalb von dreizehn Jahren irgendwann mal etwas durchsickern müssen. Und wenn die beiden Menschen – die in dem Kinderzimmer an die Heizung gefesselt waren – an den Folgen des Verbrechens gestorben wären, weshalb hatte dann niemand die Leichen gefunden? Er suchte auf den Fotos nach weiteren Hinweisen, strich ganz langsam mit dem Finger darüber. Gab es nun zwischen den Bildern, die er vor sich hatte, und den Geschehnissen im Haus der Familie Peach irgendwelche Übereinstimmungen oder nicht? Möglich war auch, dass das Foto gestellt war – die Ausgeburt einer perversen Fantasie. Klar, bei dem am Boden kauernden Mann konnte es sich natürlich um den Troll handeln – und was würde daraus folgen? Ein kleinerer Bruder vielleicht? Und die Wände mit den Blumenmustern und die Garderobe? In Millionen Schlafzimmern sah es genauso aus …
Plötzlich fiel ihm wieder ein, wie sicher sich Carmel gewesen war, dass jemand in ihrem Haus Fotos gemacht hatte. Als er so darüber nachdachte, hatte er plötzlich das Gefühl, dass es noch etwas geben musste, was er wissen sollte. Nur so ein Gefühl – eine vage Intuition. Einer der beiden Eheleute rückte nicht mit der ganzen Wahrheit heraus.
Er rauchte ein halbes Päckchen Tabak, trank vier Tassen Instant-Kaffee und spielte in Gedanken tausend Möglichkeiten durch. Doch als es dann Zeit war, zur Morgenbesprechung zu gehen, war er noch immer nicht weitergekommen, nur ziemlich erschöpft. Auf dem Weg zum Besprechungszimmer hatte er Pendereckis Geruch in der Nase.
Die Fahnder der Mordkommission wussten ganz genau, dass es beim derzeitigen Stand der Ermittlungen nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder man saß untätig herum und wartete auf die DNS-Analyse, oder aber man versuchte, auf anderen Wegen weiterzukommen. Da niemand Lust hatte, bloß Däumchen zu drehen, wurden in
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