Die Belagerung der Welt - Romanjahre
einen Stuhl zu setzen, was unvorstellbar gewesen war in Zürich, ich schlotterte; am ersten Tag eine Viertelstunde aufstehen, am nächsten eine halbe und so fort. Eine RoÃkur, zusätzlich eine Psychokur. Und es gelang. Er hat mich gerettet. Er war Arzt und Erzieher, ein unorthodoxer Medizinmann, obwohl er Dr. med. war und über Leberleiden und deren psychogene Ursachen promoviert hatte. Ein Zirkuskind ursprünglich, im Krieg mit seiner Truppe zur Unterhaltung der Frontkämpfer eingesetzt und auf Grund einer Krankheit mit bloà einigen Monaten Lebenserwartung freigestellt. Er las in Doktorbüchern, um sich über den eigenen Fall Klarheit zu verschaffen, er kam, ich weià nicht, wie, mit dem Leben davon, beschloÃ, Medizin zu studieren, holte das Abitur nach, wurde erst einmal Heilpraktiker, verdiente sein Studium als solcher, unternahm die Reise nach Indien auf dem Landweg, um Volksmedizin zu studieren, blieb ein, zwei Jahre in Indien bei dem Heiligen, den er viel, viel später zu sich nach München geholt hat, kam zurück, schloà das Studium ab, machte seinen Doktor und fuhr mit einer mehr als nur unkonventionellen Behandlung als Arzt und speziell Chiropraktiker fort und blieb mein Freund. Und für mich war er auÃerdem eine Art Inkarnation meines armen Vaters. Er gehörte für mich zur allerengsten Familie, ich wohnte oft bei ihm in seinem vergammelten und so ganz und gar unästhetischen Haus mit den Autokadavern im Garten, er kam oft in die Schweiz zu uns zu Besuch, er rief treu an zu später Stunde, und ich schrieb ihm treu Briefe, er war
mir wichtig über allerhand Schranken der verschiedenen Lebensart und Verständigungsschwierigkeit hinweg, er war wohl ein Beichtvater, eine Instanz, er war nur einige Jahre älter und hundert Jahre wissender als ich, er war ein Nabelpunkt in meinem Leben, wenn er anders auch ein Prolet oder Volkskind geblieben war und in punkto Frauen nicht eben enthaltsam. Er hatte eine Tochter aus einer ersten Verbindung, Zwillinge mit einer zweiten, und er hatte zuletzt mit Viola, die auch Chiropraktikerin und Mitarbeiterin in seiner Praxis wurde, einen kleinen Sohn, nicht viel älter als Igor. Das Söhnchen heiÃt wie der Vater Reinhard. Und dann hatte er den Schlaganfall, der ihm die Sprache raubte und ihn wie meinen Onkel Emil alias Alois (s. Das Jahr der Liebe ) werden lieÃ. Und nun ist er gestorben. Muà mehr über ihn schreiben wie auch über Armin Kesser und Leoncillo (Leonardi), alle drei sind mir wichtig, weil wohl Mentoren gewesen.
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Armin Kesser habe ich kennengelernt, als ich noch Assistent war am Bernischen Historischen Museum unter Michael Stettler, ich war unter 30 und Familienvater. Kesser kam mit einer kleinen Equipe des Fernsehens. Er schien eher klein, hager, mit einem Tigergesicht, die Augen hinter Brillengläsern kritisch bis belustigt blickend, es war auch eine Spur fast lauernder Neugier im Blick, doch das Auftreten war selbstbewuÃt bis arrogant. Ich war gleich alarmiert â von der Persönlichkeit! Nun, es war eine Befreundung auf den ersten Blick. Wir verabredeten uns nach Dienstschluà in der Kunsthalle nebenan, wir stürzten uns neugierig ins Kennenlernen. Dann kam ein Besuch in Zürich, wo er mir, was mich verwunderte, die Adresse einer Dame und nicht die seine angab. Die Dame war Modeschöpferin in einem eigenen Modehaus und Kessers »Lebensmensch«, wie Tho
mas Bernhard es von einer Tante sagte. Sie waren sich als Kinder schon nahegestanden und später in Berlin eng befreundet, Alliierte. Vor allem war die Dame eine Art Mäzenin, was Kesser dadurch gutmachte, daà er, der überall hochwertige Kunstdinge, nicht suchte, sondern einfach fand, ihr eine erstrangige Kunstsammlung aufbaute, darunter Kandinsky, Derain, aber auch antike Figuren, antiken Schmuck. Sie unterhielt ein groÃes Haus, sie führte uns später, als ich in Zürich wohnte, in die besten Restaurants, sie bewirtete den ganzen Kesser-Clan und auch meine Angehörigen, sie war unsere Gönnerin. Und sie war stolz darauf, denn Kesser war die Sonne in ihrer Galaxie. Er war es auch für mich. Er war Schriftsteller, Essayist, ein Stilist! Seine Gebiete waren Kunst, Antike, Psychologie, Literatur, sogar Graphologie, Mythologie. Er schrieb damals an einem Buch über das Wesen der Rolle, er verfaÃte Aufsätze für die Literaturbeilage der NZZ , gelegentlich einen Beitrag fürs
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