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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nötigen als anzumachen, rief, als ich lachend auswich: »Eh chef, tu fais la gueule?« (sinngemäß: »Bist du sauer?«), und ich stapfte durch die ganze heruntergekommene Gegend, die mir im Unterschied zu damals nicht nur mies, sondern schal und verwahrlost vorkam, jedenfalls fehlte das Prickeln, das caché , die dazugehörige Prozession, das Leben.
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    Sagte einer im Radio bei einer Diskussion zum Thema der kulturellen Identität und zur Frage der staatlichen Schutzmaßnahmen zur Erhaltung derselben (unter anderem mittels Einfuhrsperre, um Film, Literatur, Chanson französischer Provenienz den verdienten Platz zu sichern), dem Einfluß oder besser der Dominanz amerikanischer Kulturprodukte könne schon darum nicht Halt geboten werden, weil möglicherweise die einheimische Produktion nicht genügend widerstandskräftig, weil realiter für ein weltweites Publikum bedeutungslos geworden sei. Sie ist unverständlich geworden. Wer von den europäischen Literaten, Künstlern, Musikern kann heutigentags schon in die USA exportiert werden? Eine verschwindende Minderheit. Nur einige Fabrikanten von Bestsellerprodukten, also kommerzielle Eintagsfliegen. Läßt sich aus dem europäischen Anschauungsbereich, läßt sich aus europäischen Stoffen kein »weltbedeutendes« Modell mehr filtern, einfach deshalb, weil wir ein in sich kreisender Spezialfall geworden sind, wie weiland Helvetia es für das Ausland war, ein Spezial-, ein Sonderfall ohne wirkliche Zukunftsperspektive, ohne Sonnenaufgang, de facto Abendland-Gut, Vergangenheit? Wir sind für die weitere Welt sichtlich keine Vordenker mehr, wir gehören nicht wirklich dazu, wir werden unsichtbar in der Festung und hinter den Wällen unserer privilegierten Bastion, in welcher es
nur noch um Abrechnungen, Eigennutz, Abwehr und Ablehnung, um eine Selbstverkrochenheit bis zur Einmottung, um Narzißmus, um Konservierung, Retrospektion, Überheblichkeit und Immobilismus geht. Es fehlen die Zukunftsperspektiven, es droht die Erstarrung, es herrscht der Kirchturmsgeist. Wir sind Welt-fremd. Ich sagte seinerzeit bei der Wiederauflage meines polemischen Diskurses: Möglicherweise handle es sich bei den Passiva, bei den schweizerischen Untugenden, die zutiefst unschöpferisch seien, um etwas, das sich morgen als Avantgardeposition erweisen könnte, die Schweiz habe einen Vorsprung in der Vorbereitung des Todes. (Einübung in den materialistischen Tod.) Sterbevorsprung. Ein Absterben zu Lebzeiten. Verblichen.
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    Heute die Nachricht im Briefkasten vorgefunden, daß die beiden Schätzungsexperten meinen literarischen Nachlaß annähernd doppelt so hoch taxieren wie der Leiter des Literaturarchivs. Die Zeichen stehen gut, ein Gewicht fällt mir vom Herzen, ich war ja diesbezüglich gestreßt, kein Zweifel. An der Gare de Lyon haben Odile und ich wie lange nicht mehr einmütig angestoßen und in die Zukunft gezwinkert.
    Valérie wie auch Odile neigten dazu, meine Benommenheit, Müdigkeit, Schwindelgefühle etc., die mit Blutdruckproblemen zu tun haben, einer generellen Panik zuzuschreiben. Valérie hatte gedacht, ich sei verunsichert in meiner Selbsteinschätzung durch die relative Ablehnung meines Journals . Ich bin es überhaupt nicht, ich fühle mich stärker denn je, ich weiß, daß meine Bücher ihren Platz haben nicht nur in irgendeinem heutigen Feld, sondern im Jahrhundert.
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    Gestern oder vorgestern auf der Rue des Martyrs von einem raffinierten Geldschnorrer aufs Kreuz gelegt worden. Ein schlanker, leicht maghrebinischer jüngerer Mann von eher smarter Aufmachung und raffiniertem Benehmen, auffallend die kleinen, schon fast blindenartigen, dunkelgetönten Augengläser; verhält stutzend den Schritt, bevor er auf mich zueilt mit allen Anzeichen des Wiedererkennens. Nein, sowas. Wohnten Sie nicht in der Nähe der Porte Saint-Cloud, Jugoslawe oder nicht? Sowas. Wie steht's? Lange nicht gesehen. War doch, warten Sie mal. War … Und ich denke: Woher kenne ich den Kerl? Raschid? Nein. Bin schon leicht beschämt, daß ich nicht schalte. Und gleichzeitig angeregt: ein Kerl aus der ersten Pariser Zeit, ein Zeuge. Nein, das Gesicht sagt mir etwas, aber ich komme nicht auf den Namen. Auch Saint-Cloud stimmt natürlich nicht, und bei dem Reizwort Jugoslawe war ich gleich skeptisch, peinlich, daß ich auf so viel

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