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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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gestauter Erwartung elektrisiert, als gelte es nicht nur dem Beiwohnen des Wunders, sondern einer zutiefst mich betreffenden Offenbarung? Dann sind Tage später die ersten geplatzten Knospen mit der Spur Innengrün anzutreffen, das Grün von der be
zauberndsten Frische, nein Unschuld, das Geburtsgrün! Andeutung von Enthüllung. Es gibt die frühentwickelten Bäume, eine Art Avantgarde, während die meisten dunklen Stämme rundum einzig ihre glänzenden Triebe recken. Doch einige Knospen sind gesprungen, und nun muß ich den ganzen Park ablaufen unter den Kronen inmitten der mächtigen Stämme, ich laufe wie ein Aufseher, wie ein Natur-Geheimagent unter den Stämmen. Anderntags beginnt da und dort das Ausschlüpfen, die gefältelten Blättchen mit dem unaussprechlich jugendfrischen Hellgrün, einem Grün, wie man es nirgends sieht, wie knochenlose Händchen, die sich öffnen. Und am nächsten Tag sind es hängende Blättchen, grün materialisierter Duft. Und sich das Platzen vorzustellen, den lautlosen Knall überall, das Schlüpfen. Das Knospenspringen ist dann wie ein riesiges Knüpfwerk durch den Raum gebreitet, und Tage später stehen die Bäume in ganzen Familien und Heerscharen in grünem Flaum. Es ist das Wunder des Anfangs. Es ist die Geburt der Schönheit.
    Es geht mir durch und durch. Ich bin verzaubert. Ich laufe nach Hause und setze mich an die Arbeit, um es dem Werden draußen gleichzutun. Es muß geschehen, es muß jetzt geschehen. Wenn nicht, ist der herrliche Moment verpaßt, die Gnadenfrist
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    Heute die Nachricht aus München von Reinhard Hemms Tod im Briefkasten. Und noch vorvorgestern erzählte ich in Frankfurt beim Abendessen in einem griechischen Lokal ausführlich von dieser Freundschaft. Reinhard war für mich ein Guru. Ich habe bei meinem letzten Besuch in München, vor anderthalb Jahren, von ihm in Obermenzing Abschied genommen. Er konnte nicht mehr sprechen, er konnte gehen und flehentlich blicken, der Hirnschlag hatte ihn der Sprache beraubt. Er tappte als Fremdling wie ein geblende
ter König umher, und sein kleiner Junge kam leichtfüßig und fröhlich von der Schule nach Hause und tat, als ob nichts wäre.
    Er war, wie in der Antike, Arzt und Lehrer in einem. Er brachte eines Tages drei Griechinnen aus Patras, wo er eine Besitzung hatte, nach Deutschland, junge, mittellose Griechinnen ohne bildungsmäßige Aufstiegsmöglichkeit, und integrierte sie seinem Haushalt in Obermenzing. Sie kümmerten sich um den Haushalt und seine Person, und er brachte ihnen Deutsch bei und bildete sie heran, bis alle drei das deutsche Abitur hatten und studieren konnten; und er holte seinen eigenen indischen Guru zu sich und integrierte ihn seinem Haushalt mit den drei Griechinnen; am Abend meditierte er mit ihm, und bei Tisch nannte er ihn Opa, und sonst saß der langbärtige indische Heilige herum wie ein Vogel auf einem Ast und spielte auf seiner Sitar. Ich hatte Reinhard Hemm, der mit einer Kusine meiner damaligen Frau verheiratet war, in unserer Berner Wohnung, wenn ich nicht irre, vorgefunden, er saß da, und ich dachte, er sei wohl der Freund unseres damaligen Babysitters, er erhob sich aus dem Stuhl und sagte Hemm, es war wie ein Räuspern, und danach sagte er, sein junger Schwager habe ihn hier bei mir abgestellt, er sei nur eben zum Frisör gelaufen. Damals war Hemm unterwegs nach Indien, und zwar auf dem Landweg, in einem alten Opel Kapitän. Wir verstanden uns gleich, und als er wegfuhr, war mir, wie ich mich erinnere, als sei ein Engel dagewesen, er ließ eine Aura zurück. Später wohnte ich oft bei ihm in seiner Arztpraxis in der Ludwigstraße oder auch in seinem vergammelten Jugendstilhaus in Obermenzing. Er hatte mich 1963 zur Behandlung übernommen, als ich bandscheibengelähmt und morphiumsüchtig darniederlag, es war nach dem Mißerfolg mit Canto . Man hatte mich von Zürich zu ihm hinbefördert und ins Bett gesteckt. Er verpaßte mir eine Radikalkur, den eingeklemmten Nerv
aushungern, nannte er es, es war wohl auch eine Entziehungskur. Ich kriegte kein Morphium, keine Medikamente, bloß Bier und sonst nichts zu essen, ich lag da auf dem Lager der ungeheuerlichsten Schmerzen, allein, weil er tagsüber in seine Praxis fuhr. Er gab mir subkutane Spritzen mit einem Mistelextrakt und nahm den Gelähmten und Horrifizierten gleich auf, um ihn in

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