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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Fernsehen, er hatte ein umfassendes Wissen und daraus hervorgehendes Universum. Er war in der Odenwaldschule zusammen mit den Söhnen von Thomas Mann aufgewachsen, Sohn des expressionistischen Dramatikers Hermann Kesser und einer Schweizer Operettensängerin. Er war Emigrant, aus Berlin, wo er dem Brechtkreis angehört und für den Börsenkurier geschrieben hatte, nach ersten Hausdurchsuchungen durch die Nazis in die Schweiz zurückgekehrt. Ein unabhängiger Essayist und unabhängiger Geist, der mit Carl Gustav Jung eine berühmte Kontroverse geführt hatte und mit Musil befreundet gewesen war – ich meine, er hielt die Totenrede für ihn.
    Und ich hielt die seine.
    Eine Zeitlang, als ich in Zürich am Canto schrieb, fuhr ich jeden Abend nach der in meinen damaligen Arbeitskammern geleisteten Tagesarbeit zu Kesser in die Carmenstraße, bevor ich nach Hause ging. Und jeden Morgen war das erste
ein ausführliches Telefongespräch mit Armin. Ich fühlte mich wahrhaft auserwählt nicht nur durch seine Freundschaft, sondern auch seinen Glauben an den in mir steckenden Künstler.
    Er hielt sich gerne in Rom auf, immer im »Minerva«. Wie ihn die Wahl des Papstes Johannes XXIII . jubeln ließ. Wie wir zusammen in Rom wandelten, auch auf den Spuren der Etrusker, wie er mit einem Telegramm die Vollendung des Canto feierte. Canetti hat mir einmal gesagt, ich müsse ausgezeichnete Schulen besucht haben. Hatte ich nicht, wohl aber war ich bei Kesser in die Schule gegangen. Sagte ich Canetti. Das muß es sein, meinte er.
    Sein Tod wurde mir folgendermaßen berichtet: Armin befand sich bei Freunden im Tessin, es war Mittag, man trank Champagner. Eben war eine Mozartplatte zu Ende gespielt. Bitte leg' sie noch einmal auf, sagte er zu seiner Begleiterin. Sie lief zum Plattenspieler, hört das Splittern von Glas, dreht sich um und fängt Kesser auf, er stirbt in ihren Armen. Es war Mittag.
    Als ich ihn in der Leichenhalle besuchte, sprach mich im Aufzug ein Fremder an mit den Worten: Sie müssen Rogoshin sein (der Freund oder Gegenspieler von Dostojewskis Idiot , wenn ich nicht irre). Der Unbekannte hatte eben Armins Totenmaske abgenommen. Er sprach russisch.
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    In der beinah fertig umgebauten Wohnung, Rue Saint-Honoré, endlich wieder allein, Igor in St. Malo. War seit Wochen mit »Außendienst« befaßt und mit Igor zusammen, was anrührend war, ich hänge wie vernarrt an dem Kleinen. Was mir (schmerzlich) abging: daß ich nie mehr denken, vor mich hin spintisieren, wahllos in der Stadt herumstreichen konnte – Vorgänge, die engstens mit meinem Arbeitsprozeß zusammenhängen. Nun, das wird sich geben, Igor ist ja tags
über in der Schule. Und überdies ist jetzt Sommer, also nicht meine Zeit.
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    Er hatte alles. Er stammte aus der russischen Aristokratie, er hatte alle Privilegien seiner Klasse, worunter ich nicht nur den während den Aufenthalten in familieneigenem Gutsbesitz empfangenen und genährten (oblomowschen) Paradiestraum verstehe, sondern den geradezu luxuriösen Zugang zur Kultur; lernte zu Hause von Gouvernanten Französisch und Englisch, was ihm später zugute kam, betrieb Sport, Tennis und Boxen, tauchte früh in die Lektüre der russischen und der Weltliteratur, war umringt von einer ihn liebenden und fördernden Familie, die Eltern bedeutende Menschen, der Vater, der ihn in die Schmetterlingskunde einführt und auf Schmetterlingsjagd mitnimmt, mit dem er aber auch die Kunst des Schachspiels pflegt und über alles diskutierten kann. Ein Glückskind. Er kommt irgendwie direkt (wie Pallas Athene aus dem Kopf des Zeus) aus Puschkin und Lermontow und dem ganzen Literaturhimmel seines Volkes zur Welt, ein Auserwählter. Er hat noch Teil an den Bällen und Vergnügungen und dem zugehörigen Liebesrausch, wie es zur Zarenzeit den Bevorzugten selbstverständlich vergönnt war. Die besten Schulen, die schönsten Neigungen und Muße, sich all dem hinzugeben. Ein Aufgehobensein im Schönsten, für das er später nur den Namen Rußland zu flüstern versteht. Ein geborener Poet und außerdem diese reich gefächerte Öffnung für alle möglichen Interessen. Es kommt die Revolution, es kommt die Ausstoßung und damit der Verlust von allem. Das Exil . Die erste Station heißt Cambridge, die zweite Berlin, wo er – aller Mittel beraubt – zum

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