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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Markt Avenue du Président Wilson beim Musée de l'art moderne. Das Erlebnis der Invalidität, die tappende Weltverlorenheit, Gebrechlichkeit, Angst.
    Bestimmt bin ich etwas angefochten durch die auf mich zukommende Bilanz meines Lebens in Form der Werkausgabe in Deutschland. Auch hat mich Derivières Durchleuchtung meiner schöpferischen Person und meiner solipsistischen (?) Schaffenskondition recht eigentlich deprimiert. Mein Zappeln an der Schreibleine, mein Verfesseltsein und die kräftezehrende ewige Auflehnung. Und in diesem Jahr noch werden wir »die Karten auf den Tisch legen«. Auch das Altern dürfte eine unangenehme Pille sein.
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    Am 11. August in Fécamp/Normandie die Sonnenfinsternis erlebt. Schon die Anreise im Zug und dann das Landen oder besser das Einströmen der kunterbunten Pilgermassen hinein in das Hafenstädtchen hatte (fast) Fellinische Züge, es galt ja einem Naturwunder beizuwohnen, und in diesem Fall war die Erwartung leise von Ängsten, Weltuntergangsängsten untermalt. Und dann bezog man Posten, jeder für sich oder gruppenweise längs der Promenade, die zum Strand führte – der Strand selber unter den Kreidefelsen war schwarz von Menschen und unerreichbar –, und dann starrte man in die hinter Wolken verborgene Sonne, die im Zenit stand und legte die zu diesem Zweck gefertigte
undurchlässige Brille an, und man gewahrte das letzte Segment Sonne, eine immer kleiner werdende Sichel von einem irritierenden Lichtgrad, und dann war es schwarz, schwarze Nacht, das heißt, es zog wirklich ein Todesschatten über das Gestirn, es wurde Nacht und totenstill, mitten am Tag, und kein Vogellaut, und die Quelle allen irdischen Lebens für eineinhalb Minuten erloschen und kalt, nur ein Feuerrand rund um das schwarze Loch, Protuberanzen. Die Sonne verschluckt und verschwunden und Nacht. Und Sterne. Und dann geht sie tatsächlich wieder auf, spältchenweise, und die Vögel singen, und die Hähne krähen, und die Menge akklamiert und grölt und Hurra, und jetzt sieht man auch das überlaufene Städtchen, das in eine Riesenkirmes verwandelt ist und die sich schiebende Menschenmasse an den Ständen und Buden entlang zum Meer hin, zum Leuchtturm, zu den Kreidefelsen, zum Strand, ans Meer, an den Ärmelkanal.
    Der Strand ist ein Kieselsteinstrand und füllt sich nun mit Badeleuten, die sich lagern und sonnenbaden und auch ins Meer tauchen, und die Luft füllt sich mit Stimmen und Fetzen von Musik, und Segelschiffe ziehen vorüber, darunter ein Dreimaster aus dem 19. Jahrhundert, majestätisch, und in der Luft über den Kormoranen und Seemöwen die Helikopter der Küstenwache und etliche Sportflugzeuge, auch Veteranen, fliegende Kisten. Und auch ich bin auf meinem steinigen Bett eingeschlafen, nachdem ich eine Schulklasse, wohl aus der Banlieue, hauptsächlich Nord- und Schwarzafrikaner, beim Planschen und danach beim Sonnenbaden beobachtet habe, wunderhübsche Kinder und Fräuleinchen. Und der zehrende Meerwind, das Rauschen und Wehen, ich war später beim Muschelessen ganz still, weil groggy. Übrigens sehen sich die hohen grünhellen, scharf geschnittenen Kreidefelsen oder Falaises, die den Strand begleiten und schirmen zum Meeresblau und hellen Himmel, sehr kost
bar, fast wie Fayencekunst an. Und bezaubernd jenes Pärchen, das ich stehend entdeckte und später hingekuschelt sah: der dunkelhaarige athletische Junge auf dem Rücken ausgestreckt und das Mädchen seitlich halb über ihm, das Gesicht auf seiner Brust, das gewinkelte Bein über seinen Leib geklammert, das ganze junge Weib ihm angegossen, nichts von Anstößigkeit lag in der Umschlingung, nur Nähe, Liebesnähe, selbstverständlichstes Verlangen und Zugehörigkeit. Glück.
    Wie ich später beim Run auf die Bahn ein anderes Liebespaar, blonde blutjunge Leute, wohl Ausländer, beim unersättlichen Kosen beobachten konnte, die Nimmersattheit beim Küssen und Anfassen, bis die Gesichter vorübergehend ganz weltabgewandt, fast schon abweisend wirken, es ist aber nur Übersättigung, eine Art Schmerzgrenze. Ja, für eine Weile oder kürzere Zeit ist alles nur ausdenkbare Verlangen im andern gestillt, es ist das totale Ineinanderaufgehen ohne weitere Wünsche, weil weitere Wünsche unvorstellbar, es ist die totale Wunschlosigkeit, eine bis zur Unerträglichkeit reichende schmerzende

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