Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
man mir sagte, um von dem Hin und Her, den Ballungen, Laufereien, dem Gekreische etc. ganz zu schweigen, erfüllte mich mit Mißtrauen bis Abscheu, warum nur, ist das Eifersucht, weil ich selber zu so etwas nie fähig war und weil es mich mit Verdachtsanwandlungen hinsichtlich Herdentriebs erfüllte, Igor wie alle anderen, warum nur dieser Haß auf Gemeinschaftsneigungen, die ich gleich mit Durchschnittlichkeit, Mittelmäßigkeit, Normalität, Normalverbrauchertum gleichsetze, und dahinter wäre und drohte das Gespenst des schalen kleinen Glücks und mehr: des Massendaseins. Ist für mich nur das Randgängerische, das Querstehen, Einzelgänger- und Rebellentum annehmbar und vielverheißend, das Superindividualistische? Für mich waren als Kind schon Schulreisen panikauslösend, von Klassengeist, wie es in der Schule hieß, keine Spur. Dabei müßte ich wissen, daß die Kleinen ja lange wie junge Tiere im Hordenverband oder
später Bandenwesen, in solchen Zugehörigkeiten existieren und daß sie da hindurchmüssen, solche Verbände lösen die Familie ab. Ich gehe immer davon aus, daß nur ein außerordentliches Leben lebenswert und überhaupt eine Antwort auf das Dasein sein kann. Und kann heute noch bei Volksfesten und ähnlichen Volksvergnügungen nur schaudern, jedenfalls zieht es mich nicht da hin, ich gehe derlei aus dem Wege. Ich kann nicht aufgehen in einem Gruppen- oder Massenkörper. Ich will nicht vom Einzelsein erlöst werden. Darum auch der Horror vor Massen von Tanzenden, für mich als Schauspiel schlicht animalisch. Und ich wünschte mir eben, daß mein Söhnchen ebenso fühlte und reagierte. Solches Aufgehen mag anderen Erlösung und Befreiung sein, für mich ist es Auslöschung.
    Â 
    Â 
    Neulich kam mir innerlich vor Augen, wie ich Odile bei einem ihrer Besuche in Paris, sie lebte noch in London und war dann eines Tages unter diffusen Vorwänden an meiner Rue Simart im Schachtelzimmer aufgetaucht, und für mich war es die Wiedergutmachung nach dem Erlittenen, noch war nichts gewonnen, noch gehörten wir uns nicht an, das Wochenende war ein Glücksfall, ein möglicher Vorgeschmack – wovon? Von der liebenden Vereinigung, Verschmelzung. Ein Leib und eine Seele. Ein Untergehen darin. Und dabei kannten wir uns ja überhaupt noch nicht. Es sollte hernach zu den schmerzhaftsten Entfernungen, zum Abfall kommen. Aber an diesem einen Wochenende hatten wir es gehabt. Und nun begleitete ich Odile an die Gare du Nord, ein sommerlicher Sonntagabend war's, glaube ich. Wir wankten in dieser Umschlingung, die einen nicht richtig gehen, nur stolpern läßt, auf den Perron, besessen vom Drang nach der unmöglichsten körperlichen Nähe oder der Furcht, aus der Nähe zu fallen. Und dann lagen wir uns in
den Armen, auf dem Perron, auf dem Tritt des Zuges, beim Anfahren des Zuges, bis … der Zug uns trennte und ich zurückblieb auf dem fürchterlich leeren Bahnsteig, wo ich bis zum Verschwinden des roten Schlußlichts verharrte. Und dann das blinde benommene Heimgehn.
    Ich notiere diese wenig interessante, weil allen Liebenden eigene Szene, weil ich heutigentags oft mit befremdlichen bis amüsierten Augen dasselbe Verhalten bei Paaren vor Zugabfahrt beobachten kann und schreien möchte: Wahn, alles Wahn, et demain les pas des amants désunis. Es ist ja gerade der Liebeswahn, die Abhängigkeit von der Droge Liebe, dieser Zustand so nah an der Verzweiflung mitten im Glück, wenn es denn Glück wirklich gäbe, was mich erschauern läßt.
    Was Odile betrifft, so dachte ich neulich, es sei eben doch nicht nur diese verrückte körperliche Verhexung gewesen, sondern ein Überfließen von Liebe. Kann mich erinnern, daß ich ihr einmal nachts in einer Bar, und der Barpianist spielte und spielte auf unseren Seelen, sagte: Noch im Grabe würden unsere Gebeine sich küssen, umarmen.
    Â 
    Â 
    Odile hat eine Wohnung gefunden, ganz in der Nähe, Rue Chabanais, und wird wohl zwischen Weihnachten und Neujahr ausziehen und umziehen. Danach die Scheidung. Die zweistöckige Wohnung, unsere Festung, bleibt vorerst erhalten, hauptsächlich Igors wegen, möglicherweise wird sie hier ihr Büro unterhalten. Von einem Verkauf wird auch darum vorläufig abgesehen, weil jedermann sagt, diese unsere doch sehr gelungene gemeinsame »Schöpfung«, zieht man die

Weitere Kostenlose Bücher