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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Gedankenabwesend; der Kuß galt nicht dem Mann oder Liebsten, der ihn stolz auf sich bezog, er war Abfall einer viel allgemeineren Zärtlichkeits-, wenn nicht Fürsorglichkeitsbegabung, einfach Abfall oder Überschuß.
    Mann und Frau ziehen nie am selben Strick, sie können später aufgrund gemeinsamer materieller Interessen eine gute Freundschaft, Kollegialität, Partnerschaft entwickeln, nie das tiefste Einverständnis.
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    Die neue Paarsituation ist schrecklich. Weiß der Himmel, was Odile mit ihrem neuen Aufleben, ihrer dezidierten Aktivität, das heißt demonstrativen Unabhängigkeit bezweckt. Ich sehe mich auf einem Abstellgeleise, wenn nicht hinausgedrängt, und so soll es ja wohl auch sein. Darum die auf mein neues Quartier auf der Butte Montmartre verwandte Dynamik und Sorgfalt. Délogé ist das Wort für meinen Platz. Donnerstag nacht bis zum frühmorgendlichen Eintreffen von Odile zurück von ihren nächtlichen Verlustigungen ist mir zumute wie »heute heiratet meine Frau«, finde keinen Schlaf. Das Ganze hat nicht nur einen beleidigenden, sondern einen herausfordernden, provokativen, vor allem einen Ablösungs-Aspekt. Auch wenn sie da ist, ziehe ich es neuerdings vor, oben in meiner Bibliothek auf dem Sofa zu schlafen. Getrennte Leben, da es für die Scheidung bislang an Willenskraft nicht reichte. Nun, unsere Liebe war wohl wirklich ein Mißverständnis. Wir waren zwei in sehr verschiedenen Lebensaltern und -lagen vom gleichen Bedürfnis nach Lebensintensität und Liebesraserei erfüllte, angeschlagene Existenzen, die annahmen, sie seien verwandte Seelen, âmes-
sœurs, und eine Zeitlang waren wir ja wirklich, wenigstens in meinen Augen, ein Leib und eine Seele, ganz und gar verschmolzen, doch mit der Zeit machten sich die verschiedenen Hintergründe und kulturellen Mitgiften immer deutlicher bemerkbar, vor allem als ich mich wieder ins Schreiben und diesen Alleingang warf, wurde die Lage dramatisch, und die Studentin Odile, ihres englischen Milieus und Werdegangs beraubt und ohne rechten Platz in meinem Leben, driftete in Einsamkeitsanfälle und krankhaften Isolationismus und erschuf sich nach dem Studienabschluß über das Arbeitsleben eine eigene, immer mehr nach Karriere aussehende Existenz, Emanzipation, getrennte Domizile, sie mit Klein-Igor in der Schweiz, ich in Paris.
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    Ich komme auf diesen Einfall, das heißt, der Einfall kam zu mir beim Nachhauselaufen, nach dem Besuch der Ausstellung im Musée d'art moderne »L'école de Paris«. Eine wunderbare Ausstellung. Eigentlich geht es um Emigrantendinge, Emigrantenangelegenheiten, Emigrantenkunst, insbesondere solche von jüdischen Künstlern wie Modigliani, Soutine, Kisling, Pascin, Chagall und vielen anderen, die hier in Montparnasse um den Ersten Weltkrieg herum gestrandet waren und in einer lockeren Koexistenz von Montparnassiens ergo Bohemiens die Cafés bevölkerten und dem Jazz frönten und in irgendwelchen hundsärmlichen Unterkünften malten und bildhauerten und die neue Kunst kreierten. Viele waren Hungerkünstler und fast alle Caféhauspoeten, und sie lebten von der Hand in den Mund, wenigstens eine Zeitlang, bis sie oder bis der eine oder andere von einem Sammler entdeckt wurde, sie lebten in Provisorien, sie lebten als Entwurzelte, als Trottoirpflanzen, doch im Grunde lebten sie münchhauserisch selbstschöpferisch von den Stanzen ihrer Kunst, sie stanzten sich künstlerisch ins Vorhanden
sein, sie lebten als die zerstreute Schar durch das Selbstbeatmungsgerät ihrer künstlerischen Wut, dieser Selbstumsetzung Tag für Tag, einer beispiellosen Verausgabung. Sie waren das Lumpenproletariat, einige brachten sich um, alle klammerten sich über den Sexus ans Leben, später sammelten die Nazis diese Heimatlosen ein fürs Gas. Im Gegensatz zu ihnen waren die Impressionisten Bauern und Bürger, Siedler. Sie waren Verfolgte oder eben Nichtintegrierte. Ihre Kunst atmet Melancholie und Verzweiflung und Glaubenslosigkeit und Rage und sexuelle Verpflegung und Traum, Schönheitstraum. Nicht zu vergessen in dieser Ausstellung die wunderbaren Fotografien, Man Ray, Brassaï und einige andere, diese Fotos haben Kunstrang.
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    Warum ich nur alles Kollektive so sehr hasse? Sogar Igors Boum vorgestern abend, die ich natürlich floh, 15 tanzende Kinder in der Wohnung, Musik in höchster Lautstärke, wie

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