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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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war mein Jahrgänger, und nun ist er weg.
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    Morgen PK Wehrli zu Rekognoszierungsgesprächen für den Fernsehfilm zu meinem 80. Schon das Wort oder besser die Zahl ist schrecklich wie das Fallbeil eines Todesurteils.
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    Canetti-Biographie beendet. Bin sehr beeindruckt. Am meisten wohl durch die bis zuletzt und eigentlich vermehrt bekundete unzerstörbare Liebe zu Veza und Hera, eine Liebesanwesenheit. Irgendwann habe ich vermerkt, Canettis Werk verwundere nicht nur durch die Disparatheit der Werkgattungen, ein Roman, drei Stücke, Aufzeichnungen, Essays, Aphorismen etc., sondern dadurch daß das Wichtigste anvisiert und ausgespart bleibe als unerfülltes, jedoch heftig beranntes Programm, eine Utopie; es ist das Programm der Feindschaft und Kriegserklärung gegen den Tod, die
Utopie einer Abschaffung des Todes oder eines ewigen Lebens. Vielleicht ist Canetti gerade mit diesem (kindisch klingenden und unverständlichen) Programm, das ja als eine Art untergründiger Strom das ganze Denken bespült und befruchtet und nicht nur begleitet, der große geniale Neuerer oder besser Stifter von der Größenordnung eines Freud (den er ja nicht mochte). Nun, er ist sowohl Dichter wie Forscher, Denker, Menschenkundler; vielleicht ist er wirklich eine Jahrhundertfigur von noch uneinschätzbarem Volumen – und natürlich nicht vergessen. Nicht überlebt. Die Stoßrichtung seines Suchens Forschens Denkens gebiert einen Leerraum von noch Unsagbarem wie eine große Beschwörung. Welch ein Leben, sowohl titanisch in der Arbeitshingabe und dem Reichtum der Materialien wie in der Buntheit Wildheit Zerstreuung und Lächerlichkeit der Vita und Lebensführung. Und bei aller Öffnung und Fragmenthaftigkeit – welch ein Gelingen, welch eine Erfüllung. Ich glaube, die Ehren, Preise, Kranzniederlegungen zu Lebzeiten sind ebenso reich und platzregenartig an ihn verschwendet wie sein Werk enigmatisch bleibt. Wofür hat man ihn denn wirklich ausgezeichnet? Um die Unbegreiflichkeit oder besser Uneinschätzbarkeit seiner gewaltigen Leistung und die eigene Verständnislosigkeit – diesen Leerraum auszufüllen. Nun, er war meine größte Begegnung zu Lebzeiten.
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    Canettis Menschensicht war lange absolut diabolisch. Sie wurde in der Provinz des Menschen , den Stimmen von Marrakesch , den Essays (Hiroshima) komplexhumaner durch Haßabbau und Verehrung.
    Die neuerliche Canetti-Rezeption und -Überprüfung hat vermutlich damit zu tun, daß mein heutiges Alter seinem Ruhmesalter entspricht – und ich bin weiß Gott weit ent
fernt von Sieg. Manchmal möchte ich meinen, ich habe versagt.
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    Plötzlich, beim Musikhören, Klavierkonzert von Grieg, kam mir zu Bewußtsein, was die Antwort auf die Frage: was ist die Last, was ist der Packen (die Last ist mir zu schwer geworden, ich kann die Last nicht mehr tragen) ist: die Existenz. Es ist die Last der Existenz, und manchmal denke ich heutzutage, daß sie mir zu schwer ist. Ich dachte auch schon, ich könnte sie beenden und mich zu Tode stürzen – wie Stolp.
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    Eben dachte ich, daß ich ähnlich wie Brigitte in ihrem Altersheim in einer Art Einsamkeitsverwirrung stecke, nicht pathologisch wie sie, ohne Klinikaufenthalte, ärztliche Hilfe, Medikamente und nicht isoliert – ich gehe ja andauernd auf Lesereisen und andere beruflich bedingte Veranstaltungen, empfange nicht nur Privat-, sondern andauernd Journalistenbesuche, vor allem arbeite ich (bin berufstätig) etc. –, und dennoch empfinde ich an einem Feiertag wie dem heutigen mein Alleinsein wie eine an Einzelhaft grenzende Verlassenheit. Nun. Auch Beckett ist ja im hohen Alter (freiwillig) in ein Pflegeheim eingetreten. Es ist normal. Man wird wieder alleinstehend im Alter, die Partner sind häufig tot, man ist der Überlebende oder aber sonstwie durch die Maschen gefallen. Ich komme darauf und auf den Vergleich mit Brigitte, weil wir uns ja blutjung als Studenten zusammengetan hatten, bevor wir heirateten und Kinder aufzogen und uns verließen. Als wir uns verließen, waren wir Mitte 30. Inzwischen sind wir beide irgendwie auf der Strecke geblieben. Wir heirateten 1953. Ich schreibe unter dem Datum des 31. Mai 2009, vorgestern bin ich von Düsseldorf zurück
gekommen (Podiumsgespräch im Heinrich-Heine-Haus /Buchhandlung Müller), Reise im Thalys

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