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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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verzehrende Originalitätstrieb?
    Auf der anderen Seite ist eine unbedingte Befreiungstendenz in diesem Wildsein und Verkommen. Selbstbefreiung. Canetti sagte ja einmal, daß das Fesselsprengen zu meinem Lebensbild gehöre. Und immerzu denke ich mit halbem Ohr an ein neues Buch – Stadtnachrichten.
    Ist es Angst vor dem neuen Werk, was in mir wütet und mich umtreibt?
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    Die neue Lebenssituation hier in London gefällt mir außerordentlich. Schon das Haus ist bemerkenswert. Ein Boardinghouse, von oben bis unten zimmerweise vermietet.
    In einem Zimmer hausen ein Pakistani und eine Bretonin mit Kleinkind zusammen, im anderen die Witwe eines im letzten Jahr erschossenen Al-Fatah-Kämpfers (erschossen bei einer Flugzeugentführung), Engländerin, mit kleinem Kind im Vorschulalter, Mirjam mit Namen. Wird einmal eine tolle Eurasierin, schaut immer bei mir herein, sehr anmutig, auffassungsklug und zielbewußt in einem. Hat mir vorhin auf mein Blatt allerlei gekritzelt, in dem ich allmählich arabische Schriftzüge entdecke. Im Gang als Gemeinschaftseinrichtung das Telefon, das sehr häufig klingelt und überhaupt andauernd genutzt wird. Vor der Türe die Gespräche in englischer, angloindischer, indischer? Sprache. Alle Bewohner kochen im Zimmer, haben vermutlich Television.
    Ich sehe von meinen großen Fenstern (die über die ganze Höhe des Raums reichen) die Straße und Straßenkreuzung mit dem Gehsteig und dem nebellampen-gelben Laternenlicht. Und die Geschäfte: gegenüber Zeitungsladen (ein dauerndes Kommen und Gehen), daneben Drogerie und indisches Restaurant mit Take-away-Service. Waschsalon, der Tag und Nacht geöffnet hat, ebenso Reinigung, dann ein Wettbüro etc. Weiter hinten ein Club und die herrlichen Parkhotels. Ich sehe die Uhr, die eine Stunde vorgeht im Vergleich zur kontinentalen Uhrzeit. Die Parade der Leute auf dem Trottoir, Inder, Pakistani, Schwarze stark vertreten, Hausfrauen verschlampter und gleichzeitig selbstbewußter als bei uns, wenig Glamour, in Sachen vestimentärer Nachlässigkeit scheint einfach alles erlaubt.
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    Präsenz der Dritten Welt.
    Heute wieder mal stadtspaziert, und zwar, obwohl nur etwa zwei Stunden, bis zum Kreuzweh. Eigentlich sollte ich nicht Kreuzweh, sondern Kopf- und Seelenweh haben: Es ist (beinah) wie in Rom – der Magen, der Verdauungsapparat ist zu klein und hilflos, um mit den Eindrücken Schritt halten zu können. Während ich draußen bin, erfahre ich eigentlich mehr den eigenen Prozeß des Überwältigt- und Verschlungenwerdens (von Stadt) als die Stadt selber. Das Stadterlebnis: vor Fassungslosigkeit selber ort- und heimatlos, wenn nicht identitätslos zu werden – ein Untergangserlebnis.
    Zwei drei Bemerkungen (armselige Speisereste) trotzdem:
    Wenn ich sage, auf dem Portobello Market werde man durchweht und durchlüftet von Exotik, meine ich es so: Es ist, wie wenn man durch verschiedenste unsichtbare Vorhänge schritte, durch Bazars in Singapur, durch afrikanische Krals und karibische Dörfer etc. versetzt würde. Ja, all das ist auf einmal anwesend, ist anwesend im Zusammenstehen von zwei, drei dicken Negerinnen dieses Gesichtsschnitts, dieser Physis und dieser Art Gelächter, wenn sie so, irgendwelche Wurzelgemüse unter dem Arm, miteinander quatschen und lachen. Aber jetzt ziehen fast lautlos Turban-Männer vorbei, sie ziehen karawanisch geisterhaft einen total anderen (Asien-)Vorhang über die Szene, und wenn im kleinen pakistanischen Restaurant der Kellner sein bengalisch leuchtendes Gebiß entblößt und mit seinem melancholischen Riesenauge lacht, dann ist wieder Szenenwechsel.
    Dieses Gewimmel ist in einer unendlichen Vielfalt da und nah in seiner exotischen Befremdlichkeit. Und zwei, drei taiwanesische Mädchen gehen schnatternd vorbei. Und thailändische Studenten. Perser, Türken, Zyprioten … eben das ganze Weltreich. Aber wenn früher einige aus den Kolonien rekrutierte und entsprechend gedrillte Arbeitskräfte
integriert waren, hinzu kamen noch Studierende dortiger Eliten, so ist das heute ganz anders: Es ist eine wahre Flut. Das bankrotte Empire überflutet aus allen fernsten Himmelsrichtungen das ehemalige Zentrum dieses Imperiums, und die Leute sind nicht wirklich integriert, sie sind »da«, und zwar mit ihrem ganzen Anderssein und dem Selbstbewußtsein in diesem Anderssein, sie sind

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