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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nur nicht mehr so empfindsam und begeisterungsfähig wie einst? Alles ist mir ein klein wenig wie »verlassene Stadt«. Nicht mehr brüllend vor Leben. Ergraut und verlottert.
    Ich kam also den Boulevard Barbès herauf und bog in die
rue Simart ein. Wieder mal das kleine Abenteuer, eine neue Bleibe meiner Pariser Tante ausfindig zu machen, wie schon des öfteren, was abenteuerlich scheint auch deswegen, weil ich ja via Tante eine Art Mit-Einwohner, Mitteilhaber an dieser Stadt, diesem Lebenspflaster, gewesen bin. Erinnere mich, wie ich damals Avenue Trudaine und die untere Gegend von Pigalle tagsüber (mit Hund Toby oder Jimmy) begangen habe, als halbwegs Zugehöriger. Rue des Martyrs … Damals hat mir und meiner Schwester irgendeine Nennfreundin der Tante vorgemacht, wie reich diese sei … Ich erinnere mich daran, daß wir auch mal die Druckerei (die sie geerbt hatte) besuchten und wie wir in den anliegenden Restaurants durch die allbekannte und geschätzte Madame Lola überall willkommen waren; wie ich diesen Steingeruch, Tagesgeruch des Steins, um Pigalle einschnupperte und auch den unvergleichlichen, unverwechselbaren Geruch in den Treppenhäusern; wie stolz ich war, die großen Kehrichteimer, die im unteren Hausgang nahe der Conciergenloge standen, bedienen zu dürfen. Sesam öffne dich. Und wie ich später auf (eher berufsbedingten) Besuchen in einer Bar am Boulevard Rochechouart gleich ein Mädchen kennenlernte und mit ihr (samt Hund) in einer Kinologe flirtete. Und der Boulevard Rochechouart verschmolz in meinem Gefühl mit der Szenerie und dem Lebensgetümmel aus Les Enfants du Paradis .
    Kam also die rue Simart rauf, natürlich gespannt, wie das neue Domizil aussähe. Es stellte sich heraus, daß diese Wohnung immer schon der Tante gehört hatte, nebst der Eigentumswohnung in der rue du docteur Goujon nahe Daumesnil. Kam also die rue Simart rauf. Haus Nr. 20 ist kein schlechtes Haus, wenn auch schlichter als die Vorgänger. Ohne Lift. Irgendeine Frauensperson rief im halbdunklen Gang nach mir und fragte, was ich wünsche. Madame Lola wohne »dans la cour, deuxième, à droite«. Also im Hinter
haus, engbrüstig, ohne Lift. Ich klopfte, drehte an der Klingel. Ein bißchen Hundegeknurr und Gescharre, ein bißchen Schlurfen. Ob's der Briefträger sei? Nein, ich, dein Neffe aus Zürich … Endlich geht die Tür auf, und Tantchen im Bademantel, noch nicht zurechtgemacht, sehr klein, etwas abgemagert. Sie hat sich operieren lassen müssen, hat das andere Appartement verkauft (an einen Komponisten aus Belgien), und zwar weil ihr Zurückgelegtes aufgezehrt gewesen sei. Aber innen ist es doch wieder so wie immer. Sympathisch schlampig. Die Möbel zu groß für die kleine rotgefärbte Dame mit der zu prominenten Nase, die sie von ihrem Vater geerbt habe, einem Riesen übrigens, mindestens ein Meter achtzig, sagt sie.
    Also sitze ich wieder mal in einer Lola-Wohnung. Jimmy, der Foxterrier, ist auch ruhiger geworden. Und wir plaudern über unsere russische Familie. Sie spricht von Ärzten, Musikern, auch Journalisten in der Familie. Großvater gehörte einst das Haus in London, das Haus, das neulich Valérie für mich fotografiert hat. Es gab Domestiken etc. Allerdings scheint die zweite Frau die Kinder aus erster Ehe nicht gemocht zu haben. Lola wohnte ein Jahr bei ihnen in London. Entfremdung. Aus den Augen verloren. Onkel Sidney sagte einmal, mein Großvater sei ein ausgesprochen kühner, starker, selbstbewußter Mann gewesen.
    Ich gehe mit Jimmy raus, derweil Lola sich zurechtmacht – »sortir Jimmy«. Dann schlendern wir zum Boulevard Rochechouart, um zu essen. Das Restaurant heißt »À la bonne table«. Hier kennt man Madame Lola seit 20 Jahren, hatte sie doch in der Nähe eines ihrer Geschäfte. Wirklich großartig das Essen. Es gibt nur ein Menü, aber man bedient sich nach Belieben. Als Vorspeise stellt man uns an die zehn Schüsseln mit crudités und Fisch plus Wurst auf den Tisch. Wein und Brot. Dann zweierlei Fleisch, Gemüse etc. Zu beobachten sind: typisch französische Spießer, die offenbar
den Geburtstag eines Gastes feiern. Man merkt es daran, daß sie nach Wein und Schnaps noch Champagner bestellen und mit bereits geröteten Nasen sich zuprosten.
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    Montag. Ich war gestern à La Foire des Femmes, einer Veranstaltung des

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