Die Belagerung der Welt - Romanjahre
an auch Angst, geliebt zu werden.
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Paris.
Damals, als ich hin und wieder von der NZZ nach Paris geschickt wurde, um etwa eine groÃe Ausstellung, Henri Rousseau oder Aristide Maillol, zu besprechen, stach ich immer von der Gare de l'Est aus in die Stadt, bevor ich zu meinem Maler-Freund Bruno Diemer ging oder auch zu meiner Tante. Und in der Nähe der Grands Boulevards, spät nachmittags oder auch abends, bevor die Dämmerung einbrach, also noch in vollem Tageslicht, aber schon zu einer Zeit, wo die Büros geschlossen hatten oder im Begriff waren zuzumachen, gewahrte ich diese Dehnung der Zeit, dieses Sichräkeln in einer abendlichen Vergüldung. Ich ging durch eher stille StraÃen an all den Bistros, Hotels, Restaurants, Bars vorbei; ich schaute hinein, sah Männer vor ihrem Blanc sec an einer Theke stehen oder Amerikaner an einer Bar oder die Kellner in einem leeren Restaurant, bevor die Gäste eintrafen, oder ich sah an einer Bartheke eine junge Frau â warten. Und diese göttliche Erwartung des Abends staunte mich aus all den einsehbaren Etablissements (zu ebener Erde) an und steckte mich an (mit ihrer Erwartung). Ich weià nicht, was alles zu diesem Glücksgefühl gehört, das mich bis zuinnerst begeisterte; das herrliche Weià und Grau der Bauten gehört dazu, es war alles in allem diese
versammelte Verlockung der mit Lebenskunst erfahrensten Stadt der Welt. Es gehörte dazu das Gefühl, daà all das jetzt hier wahrhaft unausschöpflich vorhanden war längs aller Linien der Metro, die mich mit ihren Zustiegen und Ausstiegen und phantastischen Namen einer alltäglich gewordenen Historizität, »Austerlitz« â¦, beschwichtigten. Es gehörte dazu alles, was Literatur und Film mir an Lebensmöglichkeit in Paris bereits zugeschmuggelt hatten, es gehörte das Pandämonium dieser ErschlieÃungen dazu, die Allgegenwart so vieler Existenzen, die alle hier sich ausgelebt hatten â ja: Das gehört zum pariserischen Stadtgefühl, daà die Vorstellung, ohne sich dessen bewuÃt zu sein, andauernd in Romane abirrt, in Existenzromane, Liebesromane, in Künstlerromane. Es ist schwer, in Paris etwas zu denken oder zu fühlen, das nicht in den Spuren bereits ausgedrückter Gedanken und Gefühle abliefe. Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts. Es wäre einmal hübsch, aufzuschreiben, was einem alles dazu einfällt. Diese imaginäre Bevölkerung der Stadt und der Stadt in meinem Gefühl (wenn ich hier bin), diese Ver-Romantisierung des Lebens und der Stadt, automatisch.
Ich werde einmal eine Woche hinfahren, im Zimmer einen Stadtplan aufhängen und zu Fuà durch alle Quartiere gehen und alles aufschreiben, was sich mir eingibt, was ich beobachte und fühle. In Paris wechselst du auf Schritt und Tritt von einer Realität in eine nächste und übernächste.
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Lese als Begleitlektüre unter anderem Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied . Ein Angstfriede ist da drin wie bei Adalbert Stifter. In der Malerei würde entsprechen: Caspar David Friedrich. Vor allem die Naturbetrachtungen â die Natur ganz vollgesogen mit psychischen Zuständen und
also immer mit starrem Selbstkonterfei zurückgrinsend. Albtraumruhe.
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Nach dem Tod und der Beerdigung Friedrich Kuhns eine ganze Woche mit Sauferei, Herumtreiberei, Schlägerei verloren. Endlich wieder im Arbeitszimmer GärtnerstraÃe, mit blauem Auge. Ãbrigens kündet sich ein neues Domizil an: das Maleratelier in der StockerstraÃe 43. (Dessen Inhaber, Bert Schmidmeister, zieht in Kuhns Atelier in der WuhrstraÃe 10.)
In meinen, in letzter Zeit sich mehrenden Ausschweifungen kommt neben Sauf- und Sexgier immer mehr Aggressivität zum Ausdruck. Aggressivität in beängstigendem AusmaÃ, krankhaft, Mordwahn, Totschlagsgelüste, Zerstörungs- und Selbstzerstörungsmanien. Hinterher Gedächtnisverlust, und ich laufe herum in einer Traurigkeit wie einer, der mit dem Wissen um eine unheilbare Krankheit herumgeht.
Ich habe Angst â vor mir. Vor meiner offenbar nicht regulierbaren Verschwendungssucht, Zügellosigkeit, Anarchie. Und Angst, daà ich nicht hinausgelange: ins Freie eines groÃen Werks, einer groÃen Entwicklung, einer groÃen Kurve. Also Realisierungsangst. Woher übrigens dieser Selbstanspruch, unbedingt etwas GroÃes leisten zu müssen, dieser
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