Die Belagerung der Welt - Romanjahre
da mit ihren anderen Lebensgewohnheiten, Sitten, Gebräuchen, ihrer anderen Sprache, Kultur, unbekümmert. Das ist viel extremer als das, was bei uns die »Ãberfremdung« heiÃt. Es ist, wie wenn auf einer exklusiven weiÃen Party plötzlich ganze Völkerstämme aus fernsten Landen sich breitmachten, aber nicht um teilzunehmen , sich an- und einzupassen, sondern um unter sich zu sein â nur sind sie zufällig auf der falschen Party. Sie funktionieren die Party nolens volens um, achtlos, ohne böse Absichten, einfach so, durch ihre Gegenwart. Enoch Powell im Fernsehen gesehen. Sehr ähnlich unserem James Schwarzenbach vermutlich. Die Angst, auf die er abstellt und mit welcher er spekuliert, ist vorhanden. Auch das ein Zeichen der verschobenen Weltgewichte. Wir sind nicht mehr Zentrum, wir sind Peripherie. Die andere, die zugewanderte Völkerwelt ist lebensmächtiger, weil jünger, vitaler, vor allem zukunftsträchtiger.
Das Ganze schlecht ausgedrückt â aber grosso modo dennoch stimmig.
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Warum habe ich, sowohl in Paris wie jetzt auch in London, jedes Jahr in verstärktem MaÃe den Eindruck einer Entzauberung? In Paris ist es äuÃerlich durch die bauliche Zerstörung bedingt (Verlust ganzer Quartiere wie Les Halles), und der Ersatz ist eine Modernisierung der Stadt im Stile unpersönlicher Hochhaus-Aussaaten. Aber es ist nicht nur das. Es geht eine Entpersönlichung vor sich. Die Städte sind
alle im Begriff, ein gröÃeres Zürich zu werden. Gut funktionierende Städte werden es dereinst sein, aber ohne Genius, Verwaltungsräume, Bankenzentren, Bürozentren, sauber, aber leblos. Die Leute werden vertrieben und damit die Seelen (der Städte) ausgetrieben. Der Genius flieht. Ich weià noch nicht so recht, was es ist. Walter Hunziker sagte, es sei viel weniger los in London, die Popszene sei arm, und überhaupt sei der Londoner Beitrag dünner geworden, dafür seien die Preise gestiegen und die Räuberei auch. Er sei in paar Tagen mehrmals und in einer für London untypischen Art ausgenommen worden.
Ist es, weil all diese Städte nicht mehr Zentren sind, weil die Sonne nicht mehr über ihnen steht? Werden diese Städte Museen ihrer selbst, nicht mehr recht selbsterneuerungskräftig, uniform? Ist es so, daà wir im Grunde erinnerungstrunken in London und Paris traumwandeln, rückwärtsgerichtet? Ist London heute höchstens noch so reizvoll in seinem Stadium eines Totalausverkaufs, eines Liquidierungsprozesses der ganzen imperialen Herrlichkeit von einst? Lieben wir diese Städte schon als Antiquitätenliebhaber? Ist keine Zukunft, weil das System keine echte Zukunft hat, das diese Städte beherrscht?
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Ungeheure Tiefs mit finsterster Bedrückung, geballter Aggression und viel Lethargie, die ganzen Tage durch. Natürlich hängt damit zusammen, daà die Atelierwohnung noch nicht parat ist, alles noch im Zustand der Malerarbeiten und Schlimmerem und dabei Mutter zu Besuch und die Kinder in Osterferienfreiheit. Also keine Rückzugsmöglichkeit, keine Abkapselung, dafür das Zerhäckseltwerden durch Anforderungen familiären Alltags und durch winzige »Pflichten«. Einen Monat habe ich jetzt dadurch verloren. Ich sollte es langsam wissen: Für mich ist Arbeiten
nur möglich, wenn ich mich und meine Arbeit ganz und gar in eine unabhängige, abgelegene Klause einsperren kann, wo wir unerreichbar sind. Abtrennung von Tageskram, Familie, Haushalt etc. Anders verkomme und stagniere ich.
Mein blöder Zustand mag auch damit zusammenhängen, daà ich seit 14 Tagen, zum ersten Mal in meinem Leben, nicht mehr rauche. Untergründig ein Gefühl wie wenn man operiert, kastriert wäre, wenn man nur auf zwei Zylindern liefe, und die anderen wissen es nicht. So eine merkwürdige Melancholie.
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Las monographische Texte über Hemingway und staunte â neiderfüllt â, wie wunderbar total er sein Leben auf sein Werk programmieren konnte. So daà Kriege, Jagdabenteuer, Fischen, Afrika, altes Europa und Amerika, Liebe versuchen und Tod versuchen, kurz: alles, dem er als Lebensgläubiger oder Zweifelnder auf der Spur war, gewissermaÃen die stoffliche Vorarbeit für seine Bücher darstellte. Auch wie er alles auf eine Karte setzte, hat mich ungeheuer beeindruckt, und dann sein Ehrgeiz: ein groÃer Schriftsteller werden oder
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