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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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imitiert Stimme und Aussprache des anderen – mitgeteilt habe, in der Sowjetunion fände sich kein ganzes Exemplar mehr von Canettis Buch, weil alle zerfleddert sein dürften, zerrissen vom unstillbaren Lesehunger der Russen. Erstauflage 100 000, auf ein Buch kommen sieben Leser. Er liebt die Russen in ihrem Verhältnis zur Literatur, stellen Sie sich vor, Nizon, sagt er, der Übersetzer habe sich für das Wort »verkauft« im Zusammenhang mit Büchern am Telefon entschuldigt, als kämen Bücher richtigerweise nicht über den Geld
weg zum Leser, als kämen sie vom lieben Gott oder von sonst einer reinen Seite. Die Russen. Wir reden über die russischen Dichter, er habe beim Wiederlesen erst bei Dostojewski neulich eine gewisse Reserve empfunden und erst nach einiger Zeit die alte Liebe wiedergewonnen, Tolstoi ist ihm zu real, zu buchhalterisch, mit Ausnahme der »Kosaken«. Sind uns in bezug auf Babel und Gogol einig. Was Hera angeht, sagt er, sei sie aufgebahrt so schön gewesen, und Johanna habe stundenlang bei der Aufgebahrten gestanden und sich nicht satt sehen können. Sie ist nach anthroposophischem Brauch bestattet worden, ich hatte nicht gewußt, daß Hera in der Steinerschule erzogen worden war.
    Ich erzählte ihm von Marokko und wie ich seine Stimmen von Marrakesch darin wiedererkannt hätte, erzähle ihm von den Räumen des Glücks in der Medina. Habe ihm übrigens mein Buch überreicht (wie auch von Salis).
    Canettis Hände sind weiß und fein und anscheinend ohne Altersflecken, er ist ganz da und lebendig, etwas härter als früher, hört nicht mehr gut, wie er zugibt. Vollkommen unerbärmlich. Ist zeitungsinformiert, hatte bereits die Kritik über mein Buch in der FAZ gelesen. Schon früher hatte er sich über Gorbatschows neuen Kurs beglückt und hoffnungsvoll gezeigt. Ich konnte diesmal nicht lange bleiben. Will ihn bald wiederaufsuchen.
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    Was soll denn meiner Meinung nach ein Buch sein, wenn nicht ein Destillat von Essenz und Essenzen (so wie der Honig die Essenz der Blumen und Wiesen und Jahreszeiten mitsamt Wind und Sonne … geheißen zu werden verdient).
    Lebens-Essenz, Existenz-Essenz, Daseins-Essenz, Gedanken-, Gefühls-, Empfindungs-, Lust- und Leid-Essenz, Geschichts- und Erinnerungs- und Vorstellungs-Essenz … auf französisch: une pompe à essence.
    Als zweites würde ich postulieren, daß ein Buch eine Schöpfung zu sein hat, dies im Unterschied zu Kommentar und Paraphrase, Reproduktion und Variation … ich meine eine Neuschöpfung, da jede Schöpfung per definitionem einmalig und niegesehen und unvergleichlich sein muß, sonst wäre sie ein Abklatsch, ein Kommentar, eine Paraphrase von etwas, wie gehabt: Papier.
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    Igor diktiert den Tageslauf, ich bin berührt von seinem Köpfchen, dem feinen Gesicht mit den staunend fordernden dunkelblauen Augen, man sagt, er habe das typische Nizon-Kind-Gesicht, wie man es auf ganz frühen Bildern von mir und meiner Schwester sieht. Vor der Geburt mit Odile in ihrer Ründe und dem langsamen Gang der hochschwangeren Frau noch einen Spaziergang über die Place Vendôme gemacht, das Todeshaus Chopins entdeckt und erst da, in letzter Minute, den Namen Igor gefunden, den Odile plötzlich in Vorschlag brachte, nachdem wir lange mit Gaspard und Gaston und sogar Gilbert gespielt hatten. Und kurz nach dem besagten Spaziergang ging's in die Klinik, mit Namen Marie-Louise unterhalb Pigalle (Cité Malesherbes, Rue des Martyrs), die halb wie ein Stundenhotel wirkte, charmant und etwas allzuwenig steril, nämlich etwas zwischen privat und verlottert, es zeigte sich jedoch, daß alles gut funktionierte. Odile brachte den Jungen in der Rekordzeit von etwas mehr als einer halben Stunde zur Welt und bezog ohne große Anzeichen von Erschöpfung das kleine Zimmer, wo ich dann jeweils zu Besuch war während der obligaten acht Tage Klinikaufenthalt. Der Arzt hatte nicht die Zeit gefunden, rechtzeitig in Erscheinung zu treten, er kam erst etwa eine Stunde nach der Entbindung, die von einer jungen Hebamme cool und reizend vorgenommen worden war. Mit der plötzlichen Anwesenheit des winzigen
Kerlchens namens Igor, mit dieser Menschheitsvermehrung, war gleich ein Dritter im Bunde da. Es ist ja nicht so, daß ein Baby etwas Ungestaltes wäre, es ist im Gegenteil die Strahlung des Dritten vom ersten

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