Die Belagerung der Welt - Romanjahre
Hemmann, Mutters Lieblingspensionär von damals, jetzt eine Erscheinung wie aus einem alten amerikanischen Film, groà schlank elegant, der Herzensbrecher vom Dienst in hohen Tagen, Gesicht merkwürdig schillernd zwischen Jugendschönheit und Greis. Sah ihn später allein weggehen, das Taschentuch an die Augen führend. Dann steckt er sich eine Zigarette an.
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Heute im Bus dachte ich, Literatur, so wie ich sie verstehe, sei der Schlüssel des Lebens . Ich dachte weniger an aufbauende aufklärende Literatur denn an Sätze, die etwas greifen und ergreifen und in dem Leser aufgehen wie Knospen aufgehen, mit dem gleichen lautlosen Knall; und später lauben sie den Himmel ein, legen betörende StraÃen vor die Augen, grün schäumende Himmelswege.
Dachte an mein Herumtragen von keimenden Wörtern und Wendungen und wie ich sie eines Tages hasche und schnappe und habe und hinschreibe, Wortwege, Landnahme, Raumschneisen.
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Mit Bus No. 60 über die Rue Ordener, Rue Riquet, Rue de l'Ourcq, Rue de Crimée, die Rue de Flandre und den Canal de l'Ourcq sowie Avenue Jean Jaurès streifend oder besser kreuzend nach der Place des Fêtes. Zentrum ist Rue de Flandre. Die neuen Hochbauten. Bereits nach der Rue Ordener, wenn man Marx Dormoy kreuzt, wenn man den Bahnübergang überfährt, ersteht die Ansicht der modernen Klippen, das schneeige Stalaktitengebilde (oder bleckende GebiÃ) der modernen neuen Zone um Rue de Flandre. Hier war einst ein armseliges, doch intaktes Kleineleute- und Arabergebiet (Villette-Gegend, 19 ième ), kleinmaÃstäblich, verwachsen, verrunzelt, voller Patina, Lädelchen, winzige Schenken, ein altersgegerbtes Gebiet; nun sieht es aus wie nach einer Sprengung: Es wirbeln und ragen die hohen Trümmer der Hochhaustürme, eine Art Strandgut, ein Auswurfpanorama, und rundherum phantasiearme Siedlungen, das heiÃt Wohnbarren, und zugehörig die obligaten Einkaufszentren. Man kann sagen: Es wird die Intimität, der kleine Grenzverkehr über die StraÃe, das aus vielen Privatheiten sich ergebende Alltagsgeschwätz, die Kleinstruktur, eine Freiheit, die mit dem Recht auf Armut und kleine Delinquenz und
allerlei Improvisation einhergeht, zerstört; viel Stimmung, viel Individualismus, eine Art Dörflichkeit; und ersetzt wird dieses ansässige und an Ort wimmelnde Leben durch ein anonymes Untergebrachtwerden samt gewissem Komfort um den Preis des Kontaktes, es kommt eine Art Einsargung in hohen Lüften zustande, Eintopfgesicht gegen die frühere Vielschichtigkeit â nun, das gilt nicht nur für Paris-France, das ist ein allgemeiner Status und Notstand.
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Ville nouvelle. Cergy  â St.-Christophe (Name der Station)
Kommst durch irgendwelche kleinmaÃstäbliche bazarartige FuÃgängereinkaufszonen aus biskuitfarbener Allerwelts-Architektur auf den Platz von Boffil â und befindest dich in einer Architekturkulisse, du traust deinen Augen nicht, ein kolossalarchitekturgewordenes Zitat oder eine Augentäuschung, Trompe-l'Åil. Ein Platz, leicht konkav; in rosaockrigem Innenfeld, von grünem Rasen umgeben, ein eckiger sich verjüngender Turm, einzahniges Obeliskoid, und dahinter ein übergroÃer Kolonnadenbogen, schimmrig weiÃ, Pilaster an Pilaster, darüber ein wuchtiges Gesimse, und zwischen den monumentalen Pilastern oder Halbsäulen Glaswände, dunkel spiegelnd; Architektur aus nichts als einigen Elementen des Antiken- und Imperialismus-Vokabulars, doch sind sie innen bewohnt, das riesige Kulissending, die Kolonnadenbogenwand ist offenbar Wohngrotte, die Menschen, die den Platz überqueren oder unter diesem an die Kolonnaden von Bernini erinnernden Ding entlang gehen, sind ganz kleine Krabbelwesen; in diesem Rahmen sehen Himmel und Wolken wie gemalt aus; Architektur gewordener de Chirico oder Magritte, metaphysische Architektur, es ist groÃartig, ohne Zweifel, un-menschlich, reiner Gestus. Und Durchgänge, Durchblicke, Tore sind integriert, durch sie ist die ferne Landschaft, die zum Tal der Oise gehört, ein
bezogen, du schreitest durch einen solchen Durchgang über die »Esplanade de Paris« in Terrassen an den Rand des Tals, siehst den Fluà und unter Bäumen träumende alte Häuser und Pavillons â und in der Ferne die Zähne der Défense.
Der Platz ist gegen Osten durch eine Front aus Renaissance-Palast-ähnlichen
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