Die Belagerung der Welt - Romanjahre
evoziere, in Wirklichkeit zu Ende gegangen oder besser zum Verschwinden gebracht worden war; ich nahm in meinem damaligen Schmerz Zuflucht zum Schreiben, zu Skizzen unter dem Titel Valse grave , was von Ravel inspiriert war, ich wollte das schwere Gefühl von Nähe und Fremde beim Wange-an-Wange-Tan
zen thematisieren, so etwas, doch der Schmerz blieb mir erhalten, es war der Verliebtheitsraum, der mir entzogen worden war, es war der Schmerz im Umgang mit brennend nahen Erinnerungen, ein AusgestoÃensein. Verlust und Kälte. Einsamkeit.
Und wie sollte ich meine gerupfte Seele in diesem trostlosen Treppenhaus zwischen Kellergewölben und Dachstockreich, wo alle Wohnungstüren Unglück verbargen oder Trostlosigkeit verrieten, abseits, wenn nicht in Pflege bringen? Das Problem, auf das ich hier anspiele, hat zu tun mit dem Gegensatz von inneren Zuständen und häuslichen Umständen. Was ich in Prosa-Musik umzusetzen trachtete, war eine innere Leidenslast, eine dunkle Pracht, denn ich spürte bei allem Schrecken und Frieren, bei aller Panik um den Verlust, daà mein leidendes Wesen als Resonanzkörper eine dunkle und schwere Pracht zum Schwingen brachte, das heiÃt überhaupt beherbergte. Das Leid hatte mich reich gemacht. Wie sollte das leidgeprüfte, in dunkle Schwingung versetzte Wesen in diesem Treppenhaus und Totenhaus überleben? Es war nur durch Umdichtung möglich, durch Schöpfung und dichterische Selbsterschaffung. Was mich interessiert, ist der Aufschwung der Seele aus häuslichen Gegebenheiten, Gebundenheiten. Und kraft des Aufschwungs das Imaginieren einer anderen Welt.
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Neulich wurde mir bewuÃt, bis zu welchem Grade ich als junger Vater für die Kinder eine Zumutung gewesen sein muà in dem Sinne, als mein Schreiben, meine künstlerische Entwicklung, die sogenannte Selbstverwirklichung so tausendprozentig Vorrang hatte vor allem anderen, vor Kinderfragen und Familienleben, was ja aus kindlicher Perspektive nicht zu fassen war, wie ich heute mit Schrecken einsehe. Ich dachte immer, es genüge, wenn der Vater in seiner Art
echt und vital, kein Schlappschwanz und kein SpieÃbürger sei, und ich war zutiefst der Ãberzeugung, mein künstlerischer Feldzug sei wichtiger als Familienleben mitsamt Kinderfragen und -leben. Diese Haltung war zumindest nach Rom unanfechtbar, wenn ich auch an den Kindern hing, es kam mir nur damals einfach nicht in den Sinn, daà man die Prioritäten anders verteilen könnte. Ich sage das nicht einfach im Sinne eines späten Reueanfalls, ich glaube nach wie vor nicht besonders an Erziehung.
Man kann lächeln über diese späte Einsicht. Ich komme darauf, weil ich in unserem um Igor kreisenden Alltag mit der Frage der Elternschaft konfrontiert werde.
Ich hoffe immer, wenn ich an die Zürcher Wohnung oder noch früher an das Berner Familienleben zurückdenke, daà es wenigstens lebendig und in diesem Sinne reichhaltig zugegangen sein möge, wenn auch die damals allzu jungen Eltern nicht eben pädagogische Begabungen und in keiner Weise genügend gerüstet waren. Aber ein Totenhaus war es nicht. Es war, bilde ich mir ein, allerlei Anregung vorhanden, viel Kontakt, Kontroverse, später Gespräch und Diskussion. Und es gingen interessante Menschen bei uns aus und ein.
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An den Häusern vorübergehend, kann ich sagen, ich trete in ihren Schatten. Was ist der Schatten? Schwälle von Innenluft, Innenwelt, jedes Haus hat diese unsichtbaren Vorfelder. Wenn ich (wie in den geworfenen Schatten) eintrete, werde ich erfaÃt von Intensitäten, vergleichbar stehenden Mückenschwärmen. So viel Andrang. So viel Futter für Gedanken. Ich trete in den Bereich der Menschen.
Leere Plätze in der Stadt, abends in der Dunkelheit. Wie die riesigen Räume zusammenfallender StraÃenzüge ihre Stillen einherwälzen über dem braunteerigen Belag. Das gibt es nur
in den wirklichen GroÃstädten: dieses Kontinuum, die Steinleere, die speichelglatte Wüste mit dem Donner der Erinnerung. Es ist das Hallen nicht nur der Geschichte, sondern der Heere von Menschen und Menschheiten, die hier ein und aus gingen, umgehen. Und jetzt sind nur die paar Buslinien in Betrieb und die paar Fahrzeuge, um die Räume auszumessen.
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Tipasa
Ich trage noch in meiner Tasche das Büschel Aniskraut, das ich vom Strauch rià in jenem zum Meer offenen Ruinenfeld, das mit
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