Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
aussehe, du hast mich schon gesehen. So sehen wir jetzt alle aus. Wir haben alle geweint. Die Schwestern haben die erste Zeit so sehr auf uns Hamburger geschimpft. Wir sollen wieder hin, wo wir hergekommen sind usw. Dass die Hamburger uns so was schicken, dass wir alle noch leben. So ein Elend, und wir alle unrein, und wir müssen alle getragen werden. Wir werden jetzt so lieblos behandelt, wir kennen keine Liebe mehr. Ja, das ist sehr traurig. Wir werden jeden Morgen in eine Sitzwanne gesetzt und abgewaschen. Nur das Gesicht und Hände. Weißt Du auch, womit wir immer abgewaschen werden? Mit einem unreinen Kissenbezug. Und unsere Zähne werden mit einer Zahnbürste gereinigt. Die geht von Mund zu Mund. Und das ist doch nicht schön. Ich werde immer ganz schlecht dabei. Ich kann Dir nicht alles erzählen, sonst wirst Du auch schlecht. Die Arbeitsmädchen bekommen hier kein Geld. Wir stehen schon morgens um 41/2 Uhr auf. Die Arbeitsmädchen bekommen hier keine Mittagsstunde. Die Kinder (Alsterdorfer Ausdruck für alle Patienten) müssen den ganzen Tag arbeiten bis abends um 20.00 Uhr, und die Mahlzeit ist hier morgens um 8.00 Uhr. Wir bekommen nur eine Schnitte trockenes Brot, und mittags bekommen wir wenig zu essen, und nachmittags bekommen wir auch so wie morgens. Und abends bekommen wir etwas Warmes, aber nur ganz wenig. Wir möchten uns mal wieder satt essen. Wir nehmen jetzt sehr ab, und unsere Trudel jammert immer nach Essen. Trudel wird jetzt oft sehr unfreundlich behandelt. Auch mit mir wird jetzt so umgegangen. Wir haben so schwer Verlangen nach Alsterdorf. Wenn nur die Stunde bald schlagen möchte. Und nun hat eine Schwester von Alsterdorf an ein Mädel geschrieben. Sie schrieb, wir kommen nicht wieder nach Alsterdorf. Nun ist hier eine so große Aufregung, dass wir jetzt alle krank werden. Elfi hat jetzt so sehr Verlangen nach ihrem Vater. Ich möchte Dir Elfis Zustand schreiben. Seit 10. 9. ist sie mit Zittern angefangen. Es ist immer schlimmer geworden. Mit einem Mal sagt sie: ›Oh Frieda, ich kann nicht mehr alleine essen.‹ Sie hat immer so Angst, wenn ein Alarm ist, dann werden alle Fenster geöffnet und wir bleiben allein im Bett. Nur alles, was laufen kann, geht allein in den Keller. Nun sei gegrüßt von Deiner Fritzi. Ich schreibe bald wieder. [440]
Reportage nach der Nacht der Vernichtung
So bezeichnete der Arzt Gerhard Schmidt sein Buch »Selektion in der Heilanstalt«, das er 1945 konzipiert hatte. Der Autor war einige Wochen nach Kriegsende von der amerikanischen Besatzungsmacht als kommissarischer Direktor der Münchner Irrenanstalt Eglfing-Haar eingesetzt worden und löste den für seine Roheit weithin bekannten Dr. Hermann Pfannmüller ab. In den beiden Hungerhäusern der Anstalt fand Schmidt noch 95 Überlebende vor. Er sprach mit ihnen und beschrieb die Situation:
Der erste Eindruck, den man als Besucher im Hungerhaus noch Juni/Juli 1945 erhielt, war der eines Siechenasyls. Kein Lärm, keine Bewegung. Alle Intentionen waren gedämpft. Bekannt ist die nivellierende Lethargie infolge Fehl- und Unterernährung in Gefangenenlagern, wo »aus Offizieren wie Mannschaften je länger je mehr eine homogen-stumpf hintrottende Masse« wird, »die nur sich selbst gleicht, weder Spontaneität noch Aktivität zeigt und zu allem gedrängt und geschoben werden muss« (Erich Funk, 1949, Fortschr. Neur. u. Psychiatr.). Die Anstaltspfleglinge, primär lahm, indolent, autistisch, vegetierten unter der ermattenden Wirkung des Mangels nun gänzlich apathisch und initiativelos dahin. Hinzu kam, solange die Hungerhäuser ihrem Zweck dienten, der Einfluss dauernder Schlafmittelgaben. Mit der von einer Patientin erwähnten Relation: mehr Schlaftrunk – weniger Essen ist der subjektiv wohltuende, objektiv immer willenloser machende Effekt von Betäubungsmittel als zusätzlicher Noxe prägnant bezeichnet. Somatisch hatten alle Hungerhäusler im Grunde die gleichen Beschwerden und Klagen, die trotz objektiver Dringlichkeit asthenisch und selten spontan vorgebracht wurden. Alles drehte sich ohne Nachdruck, ohne Stoßkraft um Quantität und Qualität des Essens, um das erbärmliche Gewicht, um Missempfindungen und Hungersensationen.
Anschließend ließ Gerhard Schmidt die Hungerhäusler selbst zu Wort kommen. Er hatte die von ihren ärztlichen Mördern immer wieder als »leere Menschenhülsen« bezeichneten Männer und Frauen nach ihren Empfindungen befragt und danach, ob sie wüssten, warum sie hungern
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