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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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mussten. Auf letztere Frage antwortete etwa jeder Zehnte zutreffend.
    Dieses Bröckel Brei. Davon wird man nicht satt. – Mit so einem Stück Brot, wie ein Kartenblatt so dünn. Das Wasser und das Brot ist nur, dass der Magen grad gefüllt ist. – Ach, matt, matt, matt. Eine Speise fehlt. Zu wenig Essen, zu wenig Essen. – Ich hab einen Heißhunger, eine Scheibe Brot für den ganzen Tag. – Ich hab immer Hunger …, der Hunger plagt mich fürchterlich. Das ist so schwer ums Herz. – Ich kann manchmal vor Hunger nicht in den Schlaf kommen. Kein Grund, warum es so wenig zu essen gibt. Nicht weniger als die andern auch, ich habe 50 Pfund abgenommen. – Dieses Warum kann ich nicht beurteilen. Man liegt hier, magert ab und weiß nicht, warum. Ich mache mir keine Gedanken. Wenn man denkt, schon falsch. – Jetzt ist ja Krieg, da muss man zufrieden sein. – Seit der Krieg ist und die Ernte zurück. – Es wird wohl kriegsbedingt sein. – Was wollen Sie von mir? Wo ich nur noch ein paar Tage lebe, wo wir nichts zu essen kriegen! 36 Kilogramm habe ich noch. Aber man kriegt nichts mehr, es ist zu viel Militär im Krankenhaus, und die brauchen alles. – Hunger hab ich schon, am liebsten möcht ich bald sterben. Aber mir ist das egal, ob ich eine Leiche bin … Wir werden langsam ausgehungert. – Mit 59 Kilogramm bin ich hierhergekommen, jetzt nur noch 44 Kilogramm, zumal in diesem Haus! Hier kriegt man nichts, weil man nicht schafft. – Ich bin ein schlechter Arbeiter, ich habe Papierarbeit getan, bekomme immer nur die schlechten Kartoffeln, die minderwertige Kost betreffs des Geschmacks. Man sagt mir, ich arbeite nicht. – Kein besseres Essen wert, hat man gesagt, seien Volksschädlinge. – Ich will weg! Ich kann mir das nicht bieten lassen. Man will mich aushungern. – Du brauchst nichts. Sie sagen, du brauchst mehr Schlafmittel, da brauchst du net so viel zu essen. Sie sagen, dass ich ein Zuchthausmensch bin. [441]  

Die Botschaften der Ermordeten
    Die vergessenen Urnen vom Bodensee
    Nahe bei Konstanz, im Kloster Reichenau, betete und arbeitete einst der Benediktinermönch Hermann. Von Kindesbeinen an gelähmt und schwer verkrüppelt, blieb er zeitlebens an einen Tragstuhl gebunden. Man nannte ihn Hermannus Contractus oder Hermann den Lahmen. Er lebte von 1013 bis 1054. »Seine Glieder waren auf so grausame Weise versteift«, berichtete ein Zeitgenosse, »dass er sich von der Stelle, an die man ihn setzte, ohne Hilfe nicht wegbewegen, nicht einmal auf die Seite drehen konnte.«
    Hermann stammte aus einer oberschwäbischen Adelsfamilie. Seine Mutter Hiltrud hatte ihn mit sieben Jahren in das Kloster gegeben und darauf bestanden, dass ihr Sohn lesen und Latein lerne. Selbst das Schreiben gelang ihm mit größter Mühe, und so wurde Hermann zu einem der bedeutendsten Gelehrten seines Jahrhunderts. Er verfasste Studien zur Astronomie, zur Zeitrechnung, der Computistik, und zur Geschichte. Im Kloster fand er die Geborgenheit, die Bildung, den Zuspruch, die Hilfe und Gottergebenheit, derer er bedurfte, um im Leben zurechtzukommen und seine außerordentlichen geistigen Fähigkeiten zu verfeinern.
    »Obwohl er an Mund, Zunge und Lippen gelähmt war und nur gebrochene und schwer verständliche Worte langsam hervorbringen konnte, war er seinen Schülern ein beredter und eifriger Lehrer.« So schilderte ihn Berthold, einer von Hermanns vielen, von weither angereisten Hörern. In seinem Buch »Mönche am Bodensee«, in weiteren Werken und Aufsätzen rückte der Konstanzer Historiker Arno Borst immer wieder Hermann den Lahmen in die erste Reihe seiner Betrachtungen, um mit ihm, als Bruder im Geiste, Zwiesprache zu halten.

    Nachdem das Kloster Reichenau fast 1200 Jahre bestanden hatte, wurde es 1803 im Schwung des anbrechenden bürgerlichen Zeitalters aufgehoben, genauer gesagt, bemächtigten sich Staat und Volk der mobilen und immobilen Güter, die geistlichen erachtete man für nicht länger nützlich. Hinfort wurden Kosten und Nutzen sehr viel genauer bemessen.
    110 Jahre später, 1913, eröffnete die badische Regierung im Weichbild der ehemaligen Reichsabtei die Großherzogliche Heil- und Pflegeanstalt auf der Reichenau. Die Direktoren sahen sich humanen Gedanken irrenärztlicher Fürsorge verpflichtet und genossen dafür weithin Anerkennung. Knapp drei Jahrzehnte nach der feierlichen Einweihung, im März 1941, übernahm das Deutsche Reich die mittlerweile geräumten Gebäude. Der neue

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