Die Berufung
zwei andere ein. Am Ende der Woche bekam Sheila morgens einen Computerausdruck mit einem von Nat zusammengestellten Tagesprogramm auf den Schreibtisch gelegt. Zuerst sträubte sie sich noch ein wenig, aber nicht sehr. Er arbeitete jetzt schon sechzehn Stunden am Tag, und das erwartete er auch von seiner Kandidatin und allen anderen.
In Hattiesburg fuhr Wes zum Haus von Richter Harrison, um mit ihm zu Mittag zu essen. Angesichts von dreißig Fällen aus Bowmore auf Harrisons Prozessliste wäre es nicht sehr klug gewesen, in der Öffentlichkeit zusammen gesehen zu werden. Obwohl sie nicht die Absicht hatten, über die Fälle zu sprechen, wäre ein derart vertrauter Umgang mit Sicherheit falsch aufgefasst worden. Tom Harrison hatte Wes und Mary Grace eingeladen und es ihnen überlassen, den Zeitpunkt zu bestimmen. Mary Grace hatte einen Termin und ließ sich entschuldigen.
Es ging um Politik. Richter Harrisons Gerichtsbezirk bestand aus den Countys Hattiesburg und Forrest und den drei ländlichen Countys Cary, Lamar und Perry. Fast achtzig Prozent der registrierten Wähler wohnten in Hattiesburg, das genauso seine Heimatstadt war wie die von Joy Hoover, seiner Gegnerin. Sie würde in einigen Vierteln der Stadt viele Stimmen bekommen, doch Richter Harrison war sicher, dass er sie schlagen konnte. Auch wegen der kleineren Countys machte er sich keine Sorgen. Genau genommen schien er sich recht wenig Gedanken darüber zu machen, dass er die Wahl verlieren könnte. Hoover schien finanziell gut ausgestattet zu sein - vermutlich mit Geld, das von außerhalb des Staates kam -, doch Richter Harrison kannte seinen Bezirk und dessen politische Verhältnisse.
Cary County hatte von allen vier Countys die wenigsten Einwohner - und es wurden immer weniger, nicht zuletzt dank Krane Chemical und des verseuchten Wassers. Sie vermieden es, dieses Thema zu erwähnen, und sprachen über verschiedene Politiker in und um Bowmore. Wes versicherte dem Richter, dass die Paytons und ihre Mandanten und Freunde, Pastor Denny Ott und Mary Grace' Familie alles nur Menschenmögliche tun würden, um seine Wiederwahl zu sichern.
Dann drehte sich ihr Gespräch um andere Wahlkämpfe, vor allem um den von Sheila McCarthy. Sie war vor zwei Wochen nach Hattiesburg gekommen und hatte eine halbe Stunde in der Kanzlei der Paytons verbracht, wo es ihr mit einigen Verrenkungen gelungen war, nicht über die Verfahren von Bowmore zu sprechen, während sie um Stimmen warb. Die Paytons hatten zugegeben, kein Geld für Sheilas Kampagne erübrigen zu können, aber versprochen, Überstunden einzulegen, damit sie wiedergewählt wurde. Am nächsten Tag war ein Lastwagen mit Vorgartenschildern und anderem Kampagnenmaterial vorgefahren und hatte seine Fracht bei ihnen abgeladen.
Richter Harrison bedauerte die Politisierung des Supreme Court. »Es gehört sich einfach nicht«, sagte er, »dass wir gezwungen sind, auf Stimmenfang zu gehen. Sie, als Anwalt, der einen Mandanten in einem schwebenden Verfahren vertritt, sollten keinerlei Kontakt zu einem Richter des Supreme Court haben. Aber weil unser System so ist, wie es ist, kommt eine Richterin des Supreme Court zu Ihnen in die Kanzlei, weil sie Geld und Unterstützung braucht. Und warum? Weil sich ein paar finanzkräftige Interessengruppen in den Kopf gesetzt haben, dass sie ihren Sitz im Gericht haben möchten. Diese Gruppen geben Geld aus, um einen Richtersitz zu kaufen. Die Richterin reagiert, indem sie Geld in ihrem Lager sammelt. Das System ist faul.«
»Und wie bringt man es in Ordnung?«
»Entweder man nimmt das private Geld aus dem Prozess heraus und finanziert die Kampagnen der Kandidaten mit öffentlichen Geldern, oder man geht dazu über, die Richter zu ernennen. Inzwischen haben elf Staaten herausgefunden, wie ein Ernennungssystem funktionieren kann. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Gerichte den unseren überlegen sind, aber wenigstens werden sie nicht von Interessengruppen kontrolliert.«
»Kennen Sie Fisk?«, fragte Wes.
»Er ist ein paarmal in meinem Gerichtssaal gewesen. Netter Junge, hat aber überhaupt keine Erfahrung. In einem Anzug sieht er ganz gut aus, eben wie ein typischer Versicherungsanwalt. Legt eine Akte an, stellt seinen Antrag, schließt den Vergleich ab, schließt die Akte und macht sich nie die Hände schmutzig. Er hat noch nie einen Fall angehört und verhandelt, er hat noch nie in einem Verfahren vermittelt, und bis jetzt hat er nicht das geringste Interesse am Richteramt
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