Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Berufung

Titel: Die Berufung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
vorladen konnten.« Sie gingen zwanzig Meter weiter, am Zaun entlang. »Man kann es von hier nicht sehen, aber es gibt drei Gräben auf dem Gelände, tief in den Wäldern. Sie haben die Tanks einfach dorthin gebracht und mit Erde und Schlamm bedeckt. Im Lauf der Jahre wurden sie undicht - sie waren nicht mal vorschriftsmäßig verschlossen -, und die Chemikalien sickerten in die Erde. Das ging jahrelang so, Tonnen über Tonnen von Bichloronylen, Cartolyx, Aklar und anderen Substanzen, die erwiesenermaßen Krebs erzeugen. Wenn man unseren Gutachtern glaubt - und die Jury hat ihnen geglaubt -, dann ist das Gift schließlich in das Grundwasser gelangt, aus dem die Stadt ihr Trinkwasser gewinnt.«
    Auf der anderen Seite des Zaunes näherte sich ein offenes kleines Fahrzeug mit Sicherheitspersonal. Zwei übergewichtige, bewaffnete Männer starrten sie an. »Einfach ignorieren«, flüsterte Mary Grace.
    »Was gibt's da zu sehen?«, fragte einer der beiden.
    »Auf dieser Seite des Zauns darf sich jeder aufhalten«, antwortete sie.
    »Was gibt's da zu sehen?«, wiederholte der Mann.
    »Ich bin Mary Grace Payton, einer der Anwälte vom Prozess. Warum lassen Sie uns nicht einfach in Ruhe?«
    Die beiden nickten knapp und fuhren langsam davon.
    Sie blickte auf die Uhr. »Ich muss weiter.«
    »Wann treffen wir uns wieder?«
    »Mal sehen. Versprechen kann ich nichts. Im Moment geht's ziemlich hektisch zu.«
    Sie fuhren zur Kirche von Pine Grove zurück und verabschiedeten sich. Als Shepard verschwunden war, schlenderte Mary Grace zu Jeannette Baker, die nur drei Straßenecken entfernt wohnte. Bette war zur Arbeit, es war sehr still. Eine Stunde lang saß sie mit ihrer Mandantin unter einem kleinen Baum, wo sie Limonade tranken. Keine Tränen, keine Papiertaschentücher. Sie unterhielten sich über das Leben, ihre Familien und die letzten vier Monate, die sie gemeinsam in diesem entsetzlichen Gerichtssaal verbracht hatten.
6
    Eine Stunde vor Börsenschluss fiel die Krane-Aktie auf einen Tiefststand von achtzehn Dollar, bevor sie sich ein wenig erholte. Falls man es so nennen wollte - sie pendelte sich bei zwanzig Dollar ein.
    Noch schlimmer war, dass die Investoren aus irgendeinem Grund entschlossen schienen, sich auch am Rest von Carls Imperium zu rächen. Seine Trudeau Group besaß fünfundvierzig Prozent von Krane und hielt kleinere Anteile an sechs anderen börsennotierten Unternehmen - drei Chemiekonzernen, einer Ölfirma, einem Zulieferer der Autoindustrie und einer Hotelkette. Um die Mittagzeit begannen auch deren Aktien zu fallen. Das schien keinen Sinn zu ergeben, aber andererseits sind die Marktmechanismen oft unerklärlich. An der Wall Street ist die Misere einer Aktie ansteckend. Panik verbreitet sich schnell und ist rational kaum zu erklären.
    Mr Trudeau hatte die Kettenreaktion nicht erwartet, so wenig wie Felix Bard, sein gewitzter Finanzjongleur. Die Minuten verstrichen quälend langsam, und sie mussten entsetzt mit ansehen, wie die Trudeau Group eine Milliarde Dollar an Marktwert verlor.
    Woran es lag, war klar. Natürlich ging das Debakel auf das Urteil von Mississippi zurück. Aber viele Analysten - und insbesondere die geschwätzigen Kommentatoren der Fernsehsender - betonten immer wieder, Krane Chemical habe jahrelang nur an Expansion gedacht, ohne auf eine ausreichende Absicherung durch die Unternehmenshaftpflicht zu achten. Bobby Ratzlaff saß in einer Ecke vor dem Fernseher, einem dieser Experten lauschend, und Carl fuhr ihn an: »Schalten Sie endlich das Ding aus!«
    Es war fast vier. Damit näherte sich die magische Stunde, wo die Börse schloss und das Gemetzel ein Ende hatte. Carl saß an seinem Schreibtisch, das Mobiltelefon am Ohr. Bard hockte am Konferenztisch, beobachtete zwei Monitore gleichzeitig und notierte die aktuellen Kurse. Ratzlaff sah bleich und erschöpft aus. Seine persönliche finanzielle Lage hatte sich weiter verschlechtert, und er ging von Fenster zu Fenster, als überlegte er, aus welchem er springen sollte.
    Als die Schlussglocke ertönte, hatten sich die anderen sechs Aktien erholt. Auch hier war der Verlust beträchtlich, jedoch nicht verheerend. Diese Unternehmen hatten stets eine solide Performance, die Aktien würden sich wieder auf dem früheren Kurs einpendeln. Demgegenüber war bei Krane ein Totalschaden zu beklagen. Bei Börsenschluss betrug die Notierung 21,25 Dollar, ein Verlust von fast 31,25 seit dem Vortag. Der Marktwert des Unternehmens war von 3,2 Milliarden Dollar

Weitere Kostenlose Bücher