Die Beschenkte
Familie kennengelernt habe, kam es mir so vor, als sei Bo der Einzige von euch, der zur Stille fähig ist«, sagte Katsa einmal zu ihm, als sie eine Weile schweigend dagesessen hatten.
Er lächelte. »Wenn du streiten wolltest, würde ich mich kopfüber in einen Wortwechsel stürzen. Und ich habe tausend Fragen, die ich dir gern stellen würde. Aber ich glaube, wenn du reden wolltest – nun, dann würdest du reden, oder? Statt hier heraufzuklettern und bei jeder Welle fast in den Tod geschleudert zu werden.«
Seine Gesellschaft und Rors freundliche Stimme unter ihnen, die kleinen Aufmerksamkeiten der Seeleute gegenüber Bitterblue, wenn sie aufs kalte Deck kam, um sich zu bewegen, Kapitänin Faun, die so fähig und verlässlich war und Katsas Blick immer respektvoll begegnete – das alles beruhigte Katsa, und die Wunde, die in ihr klaffte, seit sie ihren Dolch auf Leck geworfen hatte, verheilte allmählich.
Sie ertappte sich dabei, wie sie über ihren Onkel nachdachte. Wie klein ihr Randa jetzt vorkam, wie unbegründet seine Macht! Wie albern, dass eine solche Person sie je beherrschen konnte!
Beherrschung. Das war Katsas Wunde. Leck hatte ihr die Beherrschung genommen. Es hatte nichts mit Selbstverurteilung zu tun, sie konnte sich nicht schuldig fühlen für das, was geschehen war. Wie hätte sie es verhindern können? Leck war zu stark gewesen. Sie konnte einen starken Gegner respektieren, wie sie die Wildkatze und den Berg respektiert hatte. Aber trotzdem, keine noch so große Bescheidenheit,kein Respekt milderten den Schrecken, die Beherrschung verloren zu haben.
»Verzeih mir, Katsa«, sagte Skye einmal, als sie gemeinsam hoch über dem Meer in den Seilen hingen, »aber ich habe eine Frage, die ich dir stellen muss.«
Sie hatte schon zuvor die Verwirrung in seinen Augen gesehen. Sie wusste, was er fragen würde.
»Du bist nicht die Frau meines Bruders, oder?«
Sie lächelte grimmig. »Nein.«
»Warum nennen dich die Lienid auf diesem Schiff dann Prinzessin?«
Sie holte tief Atem, um das Reiben dieser Frage an ihrer Wunde zu mildern. Dann griff sie in ihre Jacke und zog den Ring hervor, damit er ihn sehen konnte.
»Als er mir diesen Ring gab, hat er mir nicht gesagt, was er bedeutet. Und auch nicht, warum er ihn mir gibt.«
Skye starrte auf den Ring. Auf seinem Gesicht las Katsa Erstaunen, dann Bestürzung, schließlich eine trotzige, dickköpfige Art von Verweigerung. »Er wird einen guten Grund dafür haben«, sagte er.
»Ja«, entgegnete Katsa. »Ich habe vor, ihn aus ihm herauszuprügeln.«
Skye lachte kurz, dann versank er in Schweigen. Eine Sorgenfalte grub sich in seine Stirn. Und Katsa wusste, dass die Narbe, die sich über der Wunde in ihr bildete, genauso viel mit ihrer Machtlosigkeit in der Zukunft wie in der Vergangenheit zu tun hatte.
Sie konnte Bo nicht gesund machen, genauso wenig wie sie sich in Lecks Gegenwart zwingen konnte, klar zu denken. Manche Dinge lagen nicht in ihrer Macht, und sie musstesich auf das vorbereiten, was sie in Bos Hütte am Fuß der Berge von Monsea finden würde – was immer es war.
Als das Schiff in Monport angelegt hatte und alle von Bord gegangen waren, fand Katsa es unerträglich, länger zu warten. Doch der Hauptmann der Wache und Lecks adlige Gefolgsleute in Monport mussten zusammengerufen und dazu gebracht werden, die unglaublichen Wahrheiten zu begreifen, die Ror ihnen darlegte. Die noch immer laufende Suche nach Bitterblue musste abgebrochen werden und die Anweisungen, Katsa lebend und Bo tot zu ergreifen, waren aufzuheben – und hier wurde Rors Ton eisig.
»Ist er gefunden worden?«, unterbrach ihn Katsa.
»Ist – ist wer?«, fragte der Hauptmann der Wache von Monport dümmlich, dabei legte er in einer Verwirrung die Hand an den Kopf, die den Gästen aus Lienid inzwischen vertraut war.
»Haben Ihre Leute den Prinzen von Lienid gefunden?«, fragte Ror mit schneidender Stimme und dann, als die Blicke des Hauptmanns und der Adligen verwirrt zu Skye wanderten, etwas freundlicher: »Den jüngsten Prinzen. Er ist ein Beschenkter mit einem silbernen und einem goldenen Auge. Hat ihn jemand gesehen?«
»Ich glaube nicht, dass er gesehen wurde, Majestät. Ja, ich bin ziemlich sicher. Wir haben ihn nicht gefunden. Verzeihen Sie mir, Majestät. Die Geschichte, die Sie erzählt haben – mein Gedächtnis …«
»Ja«, sagte Ror. »Ich verstehe, was Sie meinen. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen.«
Katsa hätte die Stadt niederreißen
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