Die Beschenkte
heranstürmte. Schließlich stürzte sie in die Dunkelheit des Schlosshofs. Sie überquerte den Marmorboden und zog dabei die Nadeln aus ihrem Haar. Sie seufzte, als die Locken um ihre Schultern fielen und die Kopfhaut sich entspannte. Es waren die Haarnadeln und das Kleid und die drückenden Schuhe, es war der Zwang, den Kopf still zu halten und gerade zu sitzen, es waren die nervtötenden Ohrringe, die ihren Hals streiften – dasalles sorgte dafür, dass sie es keinen Augenblick länger beim imposanten Abendessen ihres Onkels aushielt. Sie nahm die Ohrringe ab und schleuderte sie in den Brunnen ihres Onkels. Es war ihr egal, wer sie fand.
Aber das war nicht gut, die Leute würden reden. Der ganze Hof würde darüber spekulieren, was es bedeutete, dass sie ihre Ohrringe in den Brunnen ihres Onkels geworfen hatte.
Katsa schleuderte die Schuhe von den Füßen, zog den Rock hoch, stieg in den Brunnen und seufzte, als das kalte Wasser zwischen ihre Zehen floss und an die Knöchel schlug. Das war viel angenehmer als ihre Schuhe. Die würde sie heute Abend nicht mehr anziehen.
Sie watete zu dem Gefunkel, das sie im Wasser sah, und fischte die Ohrringe heraus. Sie trocknete sie an ihrem Rock, steckte sie sich ins Mieder und blieb im Brunnen stehen, wo sie die Kühle um ihre Füße, den Luftzug im Hof und die nächtlichen Geräusche genoss – bis sie von drinnen etwas hörte, das sie daran erinnerte, wie am Hof geredet werden würde, wenn man sie barfuß und mit wirrem Haar in König Randas Brunnen fand. Man würde sie für verrückt halten.
Und vielleicht war sie verrückt.
In Raffins Arbeitszimmern brannte Licht, aber sie suchte nicht seine Gesellschaft. Sie wollte nicht sitzen und reden. Sie wollte sich bewegen. Wenn sie sich bewegte, würde das Schwirren in ihrem Kopf aufhören.
Katsa stieg aus dem Brunnen und hängte sich die Schuhriemen über die Handgelenke. Sie rannte.
Der Übungsplatz für die Bogenschützen war leer und dunkel bis auf eine Fackel, die vor dem Geräteraum leuchtete. Katsa zündete die Fackeln am hinteren Rand des Platzes an, damit sich die mannshohen Strohpuppen schwarz vor der Helligkeit dahinter abhoben. Sie nahm sich irgendeinen Bogen und eine Handvoll der hellsten Pfeile, die sie finden konnte. Dann schoss sie Pfeil um Pfeil in die Knie der Puppen. Danach in die Oberschenkel, die Ellbogen, die Schultern, bis sie den Köcher geleert hatte. Sie konnte mit diesem Bogen bei Nacht jeden Mann entwaffnen oder kampfunfähig machen, das war klar. Sie tauschte den Bogen gegen einen anderen, zog die Pfeile aus den Strohpuppen und begann erneut.
Beim Abendessen hatte sie den Kopf verloren. Sie war außer Fassung geraten, und das ganz ohne Grund. Randa hatte nicht mit ihr gesprochen, sie noch nicht einmal angeschaut, er hatte nur ihren Namen genannt. Er prahlte gern mit ihr, als wäre ihre große Geschicklichkeit sein Verdienst. Als ob sie der Pfeil wäre und er der Schütze, dessen Können ihn zum Ziel brachte. Nein, nicht der Pfeil – das traf es nicht ganz. Ein Hund. Für Randa war sie ein wilder Hund, den er gezähmtund dressiert hatte. Er setzte sie auf seine Feinde an und ließ sie aus dem Käfig, damit sie gebürstet und herausgeputzt zwischen seinen Freunden saß und sie nervös machte.
Katsa achtete nicht auf ihre Schnelligkeit und Konzentration, auf die Wildheit, mit der sie die Pfeile von der Sehne schnellen ließ und in die Schenkel der Ziele jagte, den nächsten Pfeil schon aufgelegt, bevor der erste getroffen hatte. Erst als sie die Anwesenheit eines anderen hinter ihrer Schulter spürte, tauchte sie aus dem Rausch ihrer Beschäftigung auf und merkte, wie sie wirken musste.
Sie war wild. Man brauchte nur ihr Tempo, ihre Genauigkeit zu sehen, und das mit einem armseligen Bogen, schlecht geschwungen, schlecht bespannt. Kein Wunder, dass Randa sie so behandelte.
Sie wusste, dass es der Lienid war, der hinter ihr stand. Sie ignorierte ihn. Doch sie wurde langsamer in ihren Bewegungen und zielte mit großer Geste, bevor sie schoss. Ihr wurde bewusst, dass ihre Füße im Schmutz standen, erinnerte sich, dass sie barfuß war, dass ihr Haar wirr auf ihre Schultern fiel und ihre Schuhe irgendwo beim Geräteraum auf einem Haufen lagen. Der Lienid hatte das sicher bemerkt. Sie bezweifelte, dass diesen Augen viel entging. Nun, er hätte solche lächerlichen Schuhe auch nicht an seinen Füßen geduldet oder Nadeln in seinem Haar, wenn seine Kopfhaut schmerzte. Oder vielleicht doch. Sein
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