Die Beschleunigung der Angst
richtig sehen. Er hatte
sie bisher nur von hinten gesehen, sowie im schlechten Licht des Innenhofs,
doch diese Anblicke hatten ausgereicht, seine Erwartungen in luftige Höhen zu
schrauben. Die Wahrheit jedoch war noch viel besser. Selbst der dunkle Fleck um
ihr rechtes Auge, der sich zwar langsamer, aber genau so hässlich ausbreitete
wie ein Ölfilm auf einer Wasseroberfläche, konnte ihrer Schönheit keinen
Abbruch tun. Das Scheinwerferlicht tanzte in ihren Augen, die feucht zu sein
schienen, die Haare legten sich wie ein Bilderrahmen um das perfekte Gemälde
ihres Gesichts. Ihr Mund war vielleicht eine Spur zu breit, mit vollen Lippen.
Warum zum Teufel musste er
diese Göttin unter diesen Umständen kennenlernen?
Dann erst verstand er,
begriff er wirklich, was sie gesagt hatte. Auch wenn er schon selbst zu diesem
Schluss gelangt war, erschreckte ihn die lapidare in den Raum geworfene Aussage
der Frau. Am meisten entsetzte ihn jedoch der ruhige Tonfall, mit dem sie
sprach. Als würde sie aus einem Aufsatz vorlesen. Es sah so aus, als hätte sie
sich tatsächlich aufgegeben.
»Sie hätten dir wehgetan,
wenn ich mich nicht gestellt hätte.«
Sie warf den Kopf zurück und
lachte. Das Lachen, ohne Emotionen ausgestoßen, trieb einen Eiszapfen in sein
Herz. So sollte eine junge Frau nicht lachen. Niemand sollte so lachen.
»Und du meinst, jetzt werden
sie uns nicht wehtun? Da muss ich dich enttäuschen, denn das werden sie. Nur,
dass wir jetzt keine Hoffnung auf Rettung haben.«
Daniel schloss die Augen und
senkte den Kopf.
»Ich weiß«, flüsterte er.
»Ich weiß. Es tut mir leid. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Ihre Stimme nahm einen entschuldigenden
Tonfall an.
»Nicht deine Schuld. Du hast
versucht zu helfen. Dafür bin ich dir dankbar. Irgendwann musste es passieren.
Ich war einfach unvorsichtig.«
Daniel verstand nicht, was
sie sagen wollte. Meinte sie, nur weil sie allein unterwegs gewesen war, hatte
sie verdient, entführt zu werden? Das konnte unmöglich ihr Ernst sein!
»Wie meinst du das?«, fragte
er.
Die Frau ihm gegenüber auf
dem Stuhl zuckte die Schultern und verzog dann das Gesicht, als die Fesseln
sich in ihr Fleisch bohrten.
»Vergiss es.«
Er wollte nachhaken,
entschied sich jedoch dagegen.
»Wie heißt du?«, wechselte
er stattdessen das Thema.
»Karla«, sagte sie. »Karla
mit einem K.«
»Wie in dem Lied aus den
Achtzigern?«
Sie nickte.
»Ja, genau. Meine Mutter
liebt diesen Song.«
»In Ordnung, Karla mit einem
K. Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Daniel mit einem D.« Wie
einfallsreich. »Hast du irgendeine Idee, wie wir uns befreien können?«
Er sah, wie sie hinter ihrem
Rücken an den Kabelbindern zog, mit denen ihre Hände an die Streben des Stuhls
gebunden waren. Abermals verzog sie das Gesicht.
»Keine Chance. Ich kann
meine Hände keinen Millimeter bewegen, ohne dass es höllisch schmerzt.«
Daniel verzog den Mund.
»Ich auch nicht. Fuck!
Kannst du aufstehen?«
Karla stellte sich hin, so
dass ihr der Stuhl auf dem Rücken hing. Ihre Fesseln wurden durch die neue
Haltung unter Zug gesetzt, und Karla schrie leise auf.
»Und jetzt?«, fragte sie.
Ihre Stimme klang so dünn, als wäre eine Walze drübergerollt.
Daniel seufzte. »Ich weiß es
nicht. Setz dich lieber wieder hin. Ich überlege, ob uns das irgendwie
weiterhelfen kann.«
Er suchte die Wände ab, sah
sich nach einem abgebrochenen Heizungsrohr oder einem aus dem Beton ragenden
Stahlträger um. Er fand nichts dergleichen, nicht mal einen krummen,
verrosteten Nagel. Er spürte, wie die Zeit verrann. Sie schien wie Sand zu
sein, der durch eine geöffnete Hand rieselt.
Karla vergrub ihr Gesicht
wieder hinter ihrem Vorhang aus Haaren.
»Irgendwann musste es
kommen«, sagte sie. Daniel erinnerte sich daran, dass sie vorhin schon mal
diese Andeutung gemacht hatte. Und dieses Mal, das spürte er, wollte sie ihm
erzählen, was sie damit meinte.
»Warum sagst du das? Du
konntest nicht wissen, dass ein Perverser dich verfolgt.«
Karla hob den Kopf und
schüttelte die Haare aus dem Gesicht.
»Vielleicht doch«, sagte sie
und sah ihn traurig an. »Der Perverse ist mein Onkel.«
Kapitel 11
»Was?«
Daniel glaubte, sich verhört
zu haben. Nein, er musste sich verhört haben. Das konnte Karla nicht
wirklich gesagt haben. Unmöglich.
Doch Karla nickte.
»Nicht so laut, oder willst
du, dass die wiederkommen?« Sie bewegte den Kopf in Richtung Tür. »Piet ist der
Ex-Mann der Schwester meiner
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