Die Beschleunigung der Angst
und mich im wahrsten Sinne des
Wortes hier hängen lässt, dann nennt man das unterlassene Hilfeleistung. Das
ist ein schweres Vergehen, mein Freund. Und so wird aus dem strahlenden Daniel,
gefeierter Held der Stunde, Flachleger der geretteten Jungfrau, einfach nur
noch Daniel der Knacki, dessen größte Sorge ist, selbst Jungfrau zu bleiben.
Die Richter finden unterlassene Hilfeleistung gar nicht zum Kichern, das
verspreche ich dir. Wenn du jetzt weggehst, kannst du dir gleich selbst die
Handschellen anlegen und dich ausliefern.«
Daniel spürte ein Knuffen in
der Seite. Karla sah ihn an, die Augen voller Angst.
»Lass uns gehen. Er lügt.«
Daniel nickte. Er wusste,
dass Karla recht hatte. Doch Kurts Worte waren so verdammt einleuchtend!
Natürlich wusste er, dass der Polizist nur seinen Arsch retten wollte. Selbst,
wenn er Polizist war, würde es ihm schwerfallen, das, was hier passiert ist,
einigermaßen nachvollziehbar so darzustellen, dass er nicht beteiligt gewesen
war. Unmöglich. Und doch war Kurts Argumentation nicht von der Hand zu weisen.
Daniel kannte einen Arbeitskollegen, der tatsächlich wegen unterlassener
Hilfeleistung angeklagt worden war.
Sein Schädel begann zu
kreiseln. Er konnte seinen Blick nicht von dem um Kurts Kinn pendelnden Stück
Klebeband abwenden. Seine ganze Welt schien sich auf das silberne
Verschlussmittel zu konzentrieren, während sein Kopf eine Antwort suchte.
Er wusste, dass er hier
rausmusste. Seine und Karlas Zeit lief ab. Er musste eine Entscheidung treffen,
doch er war so müde. So unendlich müde. Warum konnte er nicht einfach schlafen?
Und wenn er aufwachte, war alles wieder wie vorher, Thomas war bei ihm und sie
würden Fußball gucken und sich blöde Witze erzählen, Chips essen und Bier
trinken.
Er rief sich zur Ordnung und
versuchte, sich auf Kurts Worte zu konzentrieren.
»Komm schon, Junge«, sagte
Kurt jetzt. »Du weißt, dass ich recht habe, das sehe ich in deinem Gesicht. Was
passiert, wenn die rothaarige Schlampe wieder aufwacht? Sie ist nicht tot, sie
hat eben gezuckt. Und so, wie ich dich einschätze, hast du den Großen auch
nicht umgebracht. Da hast du gar nicht die Eier dafür. Was passiert, wenn die
beiden mich kaltmachen? Dann sitzt du richtig in der Scheiße. Mindestens
fahrlässige Tötung, Daniel, wahrscheinlich aber sogar Beihilfe zum Mord. Dann
meinen posthumen herzlichen Glückwunsch!«
»Woher sollen die wissen,
wann du gestorben bist? Ich würde denen einfach erzählen, du wärst schon tot
gewesen, als wir von hier weggefahren sind.«
Kurt warf den Kopf zurück
und lachte.
»Du bist wirklich putzig,
mein kleiner Freund. Und was willst du denen erzählen, wenn du jetzt zur
Polizei fährst? Dass noch ein Polizist dort oben am Leben ist? Oder das ich
schon tot bin? Dass du nicht sicher bist? Schwierig, oder? Denk an die
Vaseline, Daniel, denn die wirst du im Knast brauchen. Und außerdem: Wir haben
Tatortexperten, die können dir nach vier Wochen noch aufgrund der
Luftzusammensetzung sagen, wer hier wann einen Furz gelassen hat. Die können
genauer rekonstruieren, was hier vorgefallen ist, als du es aus dem Gedächtnis
aufsagen kannst. Also, sei ein braver Junge und strahlender Held, hol die
Schlüssel, nimm mir die Handschellen ab und dann fahr meinetwegen zur Polizei.
Alles andere wäre dämlich. Und das bist du nicht.«
Daniel ballte die Hand zur
Faust und biss hinein. Er wusste nicht, was er tun sollte. Der Klebestreifen
verriet ihm auch keine Lösung. Ein weiterer Knuff in seine Seite zeigte ihm,
dass Karla sich entschieden hatte. Natürlich traute sie dem Partner ihres
gestörten Onkels keinen Millimeter weit und wollte so schnell wie möglich von
hier verschwinden. Er wollte das auch, nur musste er auch an seine Zukunft
denken. Würde ein Richter ihn wirklich dafür verurteilen, wenn er Kurt nicht
befreite? Er wusste es nicht, fürchtete aber, dass er die Antwort kannte.
Selbst wenn er mildernde Umstände bekam, er durfte kein Risiko eingehen.
Hinter sich hörte er Yvonne
stöhnen.
»Verdammt, Daniel! Wir
müssen los von hier! Sie wacht auf!«
Er traf eine Entscheidung, von
der er wusste, dass sie falsch war. Doch er hoffte, dass es die weniger falsche
Entscheidung war.
»Scheiße! Wo sind die
Scheißschlüssel?«
Karla stöhnte. Kurt grinste.
Wieder dieser Gallegeschmack auf Daniels Zunge, als hätte er sich gerade
übergeben.
»Sieh mal bei dem Tier nach,
dass Piet erschossen hat. Der mit der traurigen Geschichte über
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