Die Beschützerin
Konferenzraum liegen lassen. Vanessa Ott hatte sie mir hinterhergetragen. Und auch diesmal hatte sie sich darum gekümmert, dass mein Kram wieder bei mir landete. Ich sollte ihr dankbar sein.
Ich nahm das Handy und drückte auf Michaelas eingespeicherte Nummer. Sofort erklang eine automatische Ansage. »Dieser Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Sie hatte es ausgeschaltet. Warum? Sie wartete doch auf meinen Rückruf. Ich ging in die Küche und sah auf die Uhr. Viertel nach zehn. Ins Bett gegangen war sie um diese Zeit sicher noch nicht. Ich wurde die innere Unruhe nicht mehr los. Trotz meiner Erschöpfung konnte ich nicht weiterschlafen. Ich lief planlos in meiner Wohnung herum, blickte in den Spiegel im Schlafzimmer. Ich trug noch immer das rostrote Kleid, das ich heute früh für die Präsentation ausgesucht hatte. Das türkisfarbene Tuch war im Bett aus meinem Haar gerutscht und lag neben meinem Kopfkissen. »Es bringt Ihre Augen zum Leuchten«, hatte Vanessa Ott gesagt. Nun waren meine Augen rot geädert und mein Gesicht verquollen. Ich zog das Kleid aus und warf das Tuch dazu. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder Lust haben würde, eines von beiden zu tragen. Es würde mich immer an diesen grauenhaften Tag erinnern.
Ich lief in Unterwäsche zu meinem Handy und versuchte es noch einmal bei Michaela. Die gleiche Ansage wie zuvor. Ich zog mir Jeans und ein Sweatshirt an und warf ein paar praktische Kleidungsstücke in eine Reisetasche. Noch länger in der Wohnung zu hocken mit meinen Fragen, Zweifeln und Ãngsten, war unerträglich. Ich sehnte mich nach meinem Vater. Das waren die Situationen, in denen ich ihn am meisten vermisste: wenn ich allein nicht weiterwusste. Ich musste hier raus. An den Ort, an dem ich mich immer geborgen gefühlt hatte.
Ich schloss die Wohnung ab. Auf dem Weg nach drauÃen ging ich auf den Hof und warf das Kleid und das Tuch in eine der Mülltonnen.
Die Autobahn war leer, und ich fuhr schneller als sonst. Während der zwei Stunden Fahrt versuchte ich, mich mit einer Radiosendung über neue Musikbands vom Grübeln abzulenken. Erstaunlicherweise klappte es. Mein Gehirn schien immer noch nicht wieder normal zu funktionieren. Logische, sortierte Gedankengänge fielen mir schwer. Zum Glück fühlte ich mich nicht zu müde zum Fahren.
Dunkel und still lag der Hafen vor mir. Die Windrädchen auf den Mastspitzen der Segelboote drehten sich geräuschlos. Aus der Hotelanlage an der Hafenpromenade hörte ich Klaviermusik. In der Bar war noch Leben.
Ich hängte meine Reisetasche über die Schulter, ging über den Steg zu meinem Holzboot, nahm das Schott heraus und kletterte hinein. Ich atmete den vertrauten Geruch von feuchtem Holz, den Polstern und dem Petroleumkocher. Mein Schlafsack lag in der Vorderkoje. Der meines Vaters steckte zusammengerollt unter dem Bett. Ich hatte es noch nicht übers Herz gebracht, ihn vom Schiff zu räumen. Ich zog nur die Jeans aus und legte mich hin. In dem kleinen, dunklen Schiffsbauch, die hölzerne Decke dicht über meinem Kopf, war mir, als würde mein Vater noch leben. Wenn wir an Bord geschlafen hatten, hatte er im Salon gelegen, wo die Kojen gröÃer waren als in der spitz zulaufenden Vorderkoje. Er hatte oft beim Einschlafen etwas gesummt. Wenn er jetzt bei mir sein könnte. Ich zog den Schlafsack enger um meinen Körper. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie still es hier war. Nur ganz leise ächzte manchmal eine der Schiffsplanken. Von drauÃen pochte etwas an den Rumpf. Vielleicht der Schnabel eines Wasservogels. Mein Vater hatte den Kampf gegen den Krebs schnell verloren. Wenn mehr Zeit gewesen wäre, mich zu verabschieden ⦠Aber nach vier Monaten war alles vorbei. Er hatte starke Schmerzen gehabt, und niemand hätte ihm ein längeres Leiden gewünscht. Ich dachte an meine Mutter, die in unserem Haus wohnen geblieben war, obwohl es für sie allein viel zu groà war. Das riesige, kalte Haus â¦
Ich wache auf. Es muss mitten in der Nacht sein. Ich höre jemanden weinen. Mama? Ich schleiche nach unten. Mama schimpft, wenn ich aufstehe. Sie sitzt zusammengekrümmt auf dem FuÃboden, an ein Bein des Esstisches gelehnt, auf dem eine fast leere Flasche steht. »Mama, was hast du?« Sie sieht mich an. »Wegen dir musste ich mir das bieten lassen. Hätte ich dich nur niemals geboren. Schon lange
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